Delmy Ruth Lanza stammt aus San Pedro Sula in Honduras und ist 46 Jahre alt. Sie lebt seit vielen Jahren in Sacaba, einer Stadt in der Region Cochabamba in Bolivien, und ist Leiterin der Heilpädagogischen Tagesstätte Sigamos. Mit ihrem Team von 14 Personen widmet sie sich der spezialisierten Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen bzw. Lernschwierigkeiten, wobei letztere in reguläre Schulen gehen. Die Kinder und Jugendlichen stammen aus schwierigen Verhältnissen und leben in grosser Armut. Bevor Delmy Ruth Lanza nach Bolivien kam, arbeitete sie in verschiedenen sozialen Projekten in El Salvador und Honduras.

Wo und wie sind Sie aufgewachsen?

Ich bin im Stadtviertel Medina aufgewachsen, einem der beliebtesten Viertel in San Pedro Sula, Honduras. Trotz der Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten, die ich in einer zerrütteten Familie erlebte, hatte ich eine Mutter, die bedingungslos für ihre Kinder da war, eine Kämpferin, die sich für andere einsetzte. Es gab so viele Realitäten, Menschen, die sich nach der Zärtlichkeit eines geliebten Menschen sehnten und nach einer Gelegenheit für eine positive Veränderung in ihrem Leben. Es war seltsam, die einzige Realität für die Menschen war diejenige, zu überleben. In diesem Viertel gab es Geschichten, die mich letztendlich hierher gebracht haben, wo ich heute bin.

Delmy Ruth Lanza verteilt Lebensmittelpakete an Familien, die wegen des Lockdowns in Bolivien kein Einkommen mehr haben

Könnten Sie Ihren Werdegang schildern?

Ich habe Theologie und Sozialpädagogik studiert. Ich hatte immer den Traum, mich für andere einzusetzen, und so entdeckte ich durch einen Jugendverband den Wunsch, Laienmissionarin zu sein.

Bevor ich in diese Welt des religiösen Dienstes eintrat, arbeitete ich für eine Bank, da ich mich auch im Bereich Verwaltung weitergebildet hatte. Es war ein guter Job – ein Job, von dem alle träumten. Ich hatte eine gute Zeit, aber ich war nie glücklich, obwohl ich alles hatte.

Also entschied ich mich dafür, der missionarischen Gemeinschaft der vinzentinischen Laien in Honduras beizutreten. Diese Wahl traf ich zusammen mit meinem Partner, mit dem ich inzwischen glücklich verheiratet bin, und gemeinsam leben wir seither für die am meisten Benachteiligten.

Bevor ich nach Bolivien kam, widmete ich mich der Arbeit mit gefährdeten Kindern. Ich arbeitete als Sozialpädagogin in «Amigos para Siempre», einem sozialpädagogischen Programm für gefährdete Kinder, das darauf abzielt, sie von der Welt der Prostitution sowie dem Verkauf und Konsum von Drogen fernzuhalten. Andererseits koordinierte ich ein therapeutisches Programm für Männer mit Alkoholproblemen. Dieses Programm half vielen Männern bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft, insbesondere bei der Suche nach einem Arbeitsplatz und beim Wiederaufbau ihres Lebens mit ihren Familien.

Ich kam vor 16 Jahren nach Bolivien in der Hoffnung, durch die Vinzentinischen Laienmissionare eine neue Erfahrung und Realität zu erleben und um hier eine Gemeinschaft zu bilden. Ich war in einem Nachhilfeprogramm für Kinder tätig, die wegen ihren Lebenssituationen Lernschwierigkeiten hatten und gefährdet waren.

Seit 2013 kümmere ich mich speziell um Kinder und junge Menschen mit Behinderungen und Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten.

Verteilung von Lebensmittelpaketen während des Lockdowns in Bolivien

Gab es bestimmte Ereignisse oder Stationen, die für Ihren Werdegang prägend waren?

Natürlich. Ich gehörte einem Jugendverband an, der mir in meinem Prozess der Ausbildung und Reifung meines Glaubens sehr geholfen hat. Ich entdeckte den Sinn des Lebens, den ich leben wollte, und der mir die Möglichkeit gab, die missionarische Berufung und den Einsatz für die Bedürftigsten als Laienmissionarin zu leben.

 

Hat Sie Ihr Umfeld in Ihrem Werdegang unterstützt?

Natürlich sind all die Menschen um einen herum und mit denen man Tag für Tag zusammenlebt, sehr bedeutsam – sowie auch die Erfahrungen, die ich jeden Tag im Leben mache in der Unterstützung und mit den Lebenssituationen der Menschen, mit denen und für die ich arbeite.

 

Welchen Tätigkeiten gehen Sie derzeit nach?

Angesichts der Verkündung des Notstands wegen der COVID-19 Pandemie und der damit einhergehenden Ausgangssperre in Bolivien hat sich unsere Arbeit in der Heilpädagogischen Tagesstätte Sigamos drastisch verändert. Wir arbeiten hier mit Kindern, Jugendlichen und jungen Menschen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten, wobei wir versuchen, diese nach Möglichkeit in die reguläre Schule zu integrieren. Die meisten von ihnen stammen aus dysfunktionalen Familien mit geringen wirtschaftlichem Einkommen, weshalb es von entscheidender Bedeutung ist, dass sie externe Betreuung erhalten.

Mit unserem multidisziplinären Team haben wir über Telefongespräche versucht herauszufinden, wie es den Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten geht, mit denen wir in der sonst direkt arbeiten. Wir haben uns ausserdem über die wirtschaftliche, emotionale und gesundheitliche Situation der Familien informiert.

Mit viel Trauer und Besorgnis erfuhren wir, dass es einigen Familien an Essen, Medikamenten und anderen Dingen fehlte, um die Quarantäne durchstehen zu können. Viele von ihnen leben vom täglichen Einkommen z. B. aus dem Verkauf von Lebensmitteln oder sie arbeiten als Taxi- oder Busfahrer oder auf dem Bau. Diese Menschen haben keinerlei Ersparnisse oder Versicherungen. Aus diesem Grund war es notwendig, ihnen mit Nahrungsmitteln und Medikamenten zu helfen, damit sie diese schwierige Situation überbrücken konnten.

Gegenwärtig wird die Verteilung von Nahrungsmitteln im Rahmen der verfügbaren Möglichkeiten fortgesetzt, da es Familien gibt, deren prekäre Lage sich im Laufe der Zeit verschärft hat, umso mehr hier in Sacaba, wo die Zahl der Fälle leider erheblich zunimmt und die Gemeinde strenge Sicherheitsmassnahmen für die erneute Quarantäne verhängt hat. Wir übergeben die Essenspakete direkt an die Familien und fahren dafür von Haus zu Haus.

Erfüllt Sie das, was Sie derzeit machen?

Natürlich. Und es ist mehr als das. Ich lebe es zutiefst. Aus meiner missionarischen Berufung heraus fühle ich mich berufen, bei diesen Menschen zu sein.

Besuch einer Sigamos-Mitarbeiterin bei einem Jugendlichen mit einer schweren Behinderung

Denken Sie, dass Sie selbst darauf einen Einfluss haben, ob Ihre Tätigkeiten erfüllend sind?

Manchmal überkommen mich Angst und Zweifel, aber der Glaube und die Hoffnung unterstützen einen dabei, weiterzumachen und die Menschen um einen herum davon zu überzeugen, dass man etwas tun muss. Wir konnten unseren normalen Aufgaben in der Heilpädagogischen Tagesstätte aufgrund der Quarantäne nicht nachgehen, aber wir haben unsere Stärken als Team und als Menschen und unsere Möglichkeiten analysiert… davon ausgehend haben wir das Unmögliche versucht – nämlich die Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen zu erreichen, mit denen wir sonst arbeiten.

Ich sehe Eltern weinen, weil sie inmitten dieser gesundheitlichen Krise nicht arbeiten können und deshalb nichts zu Essen für ihre Kinder haben. Für mich ist es eine unermessliche Freude und Hoffnung, diese Familien zu erreichen, denn ich weiss, dass die Familie, die ich besucht habe, an diesem Tag etwas zu Essen haben wird. Das entsprechende Kind wird weniger gesundheitliche Schwierigkeiten haben, weil es seine Medikamente genommen hat, die wir für diese Woche bekommen haben – und es ist derzeit alles andere als einfach, an Medikamente kommen. Es gibt mir auch Hoffnung, die Müdigkeit einer Mutter zu sehen, die über einen Monat lang jeden Tag 20 km hin und zurück gelaufen ist, um ihren Sohn zu sehen, der sich inmitten einer strengen Quarantäne auf der Intensivstation befindet, für die sich die ganze Mühe gelohnt hat, weil ihr Sohn am Ende nach Hause zurückgekehrt ist.

 

Es gibt Momente, in denen alles zu passen scheint. Momente, die einen erfüllen, inspirieren und die einem Kraft und Zuversicht gehen. Momente, die einen darin bestätigen, dass sich der Einsatz lohnt und dass das, was man macht, sinnhaft und wertvoll ist. Haben Sie solche «magischen Momente» in Bezug auf Ihre eigenen Tätigkeiten schon erlebt?

Das einzig Magische, das ich im Leben tue, ist das Zusammensein mit denjenigen, die diese Magie brauchen, die Präsenz, die Nähe, das Einfühlungsvermögen, das ist es, was das Leben zu magischen Momenten macht. Für mich besteht der Zauber darin, in ein Haus zu kommen und zu hören: «Danke, danke, danke, dass Sie hier sind, danke für dieses Lebensmittelpaket, dank dem meine Kinder heute Abend etwas zu essen haben.»

 

Gibt es Momente, in denen Sie an dem, was Sie machen, zweifeln?

Ich habe an dem, was ich tue, nie gezweifelt. Ich wüsste gar nicht, wie ich anders leben sollte, als mich für andere Menschen einzusetzen. Das Einzige, was mich manchmal davon abhält, mein Bestes zu geben, ist meine Familie. In diesen Momenten der Pandemie, in denen wir leben, denke ich viel an sie. Aber ich mache weiter. Mit Gottes Segen und unter Anwendung aller Vorsichtsmassnahmen habe ich jedes Kind und jeden jungen Menschen, mit denen wir arbeiten, trotz der Pandemie besucht, um in diesen schwierigen Zeiten bei ihnen zu sein.

Sigamos-Mitarbeiterinnen helfen Kindern mit den Hausaufgaben während des Lockdowns

Können Sie schwierigen Momenten rückblickend etwas Positives abgewinnen?

Etwas Positives in diesen schwierigen Zeiten, in denen wir wegen der Pandemie leben, ist vielleicht, dass viele Familien die Gelegenheit hatten, zusammen zu sein und sich anderen Aufgaben zu widmen, die es ihnen ermöglicht haben, das Zusammensein zu geniessen.

 

Gibt es etwas, was Sie rückblickend anders machen würden?

Ich glaube nicht. Das Leben hat mir die Gnade geschenkt, mit dem Wenigen, das ich habe, glücklich zu sein, und mein ganzes Leben lang hatte ich die Möglichkeit, einen Umgang mit den Widrigkeiten zu finden, die sich ergeben haben.

Verteilung von Medikamenten für Kinder mit Behinderungen

Möchten Sie mit Ihren Tätigkeiten etwas zur Gesellschaft beitragen?

Mein Beitrag für die Gesellschaft besteht darin, mein Leben denjenigen zu widmen, die mich brauchen, trotz aller Widrigkeiten und im Rahmen meiner Möglichkeiten. Aus dem Dienst, dem Engagement und der Verantwortung heraus, die eine Berufung mit sich bringt.

 

Ist Ihnen die Anerkennung von anderen Personen bzw. von der Öffentlichkeit wichtig?

Niemals. Anerkennung zu suchen ist nicht meine Lebensweise.

 

Gibt es etwas, das Sie derzeit besonders beschäftigt?

Ich mache mir viele Sorgen um mein Leben, dass etwas passieren könnte, ich höre nicht auf, an meine Kinder und ihre Zukunft zu denken.

Angesichts der Gesundheitskrise, die wir derzeit in Bolivien mit über 21’000 positiven Corona-Fällen erleben, mache ich mir grosse Sorgen um die emotionale und wirtschaftliche Situation der Kinder in diesem Land. Alle wirtschaftlichen Ressourcen werden für die Bewältigung der Notlage bereitgestellt, so dass Kinder, Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen jetzt vergessen gehen.

Vom 24. bis zum 30. Juni hat die Regierung einen «dynamischen» Lockdown deklariert, die auf den «strengen» Lockdown folgt. Aktivitäten bestimmter Sektoren sind wieder erlaubt, obwohl die Ausgangssperre ab dem späten Nachmittag und an den Wochenenden weiterhin gilt und alle schulischen, religiösen und kulturellen Aktivitäten weiterhin völlig eingeschränkt sind. Trotz aller Massnahmen haben die Fälle erheblich zugenommen und Sacaba, unsere Stadt, ist stark gefährdet. Menschen sterben auf der Strasse, weil die Spitäler überlastet sind. Es dauert in der Regel mehrere Tage, um die Resultate von Tests zu erhalten. Familien können sich die notwendigen Medikamente nicht leisten und die Medikamente sind im Allgemeinen knapp geworden. Immer mehr Spitäler kollabieren, die Angestellten im Gesundheitswesen sind fast alle infiziert, weil sie nicht über die notwendige Schutzkleidung verfügen. Daher folgt nun auf den dynamische Lockdown erneut ein strenger Lockdown, die dann bis Mitte Juli dauert. Der strenge Lockdown wird jedoch von vielen Menschen abgelehnt. Sie müssen arbeiten, um ein Einkommen zu haben, und gehen deshalb das Risiko ein, dass sie sich anstecken und sterben.

Der strenge Lockdown wird dazu führen, dass viele Familien tagelang nichts essen können und dass ihre Schwierigkeiten, den Alltag zu meistern, grösser werden. Das kann dazu führen, dass das Land in eine ziemlich grosse gesundheitliche und soziale Krise gerät.

Gibt es etwas, womit Sie sich in Zukunft gerne (verstärkt) beschäftigen würden?

Sicher, ich würde gerne mehr Zeit mit den Familien der Kinder und Jugendlichen verbringen, mit denen wir arbeiten. Sei es über die Arbeit in den Strassen oder bei Hausbesuchen.

 

Wofür sind Sie im Leben besonders dankbar?

Ich danke Gott und dem Leben für die Berufung, die ich erhalten habe. Dank all dem kann ich mich an den Menschen in meiner Umgebung erfreuen. Ich danke meiner Familie für die Unterstützung, um dieses Abenteuer zu leben und meinem Team bei Sigamos, das mit so viel Engagement und Solidarität arbeitet.

Interview
Laura Hilti, Juni 2020


Illustrationen

Stefani Andersen


Links

Centro Sigamos


Credits

Fotos: Delmy Ruth Lanza

Dieses Interview ist Teil des Projekts «Magic Moments» des Kunstvereins Schichtwechsel, in dessen Rahmen Menschen zu ihrem Werdegang, ihren Tätigkeiten sowie magischen und schwierigen Momenten befragt werden.

Kuratiert von Stefani Andersen und Laura Hilti, Kunstverein Schichtwechsel.

Gefördert durch die Kulturstiftung Liechtenstein und die Stiftung Fürstl. Kommerzienrat Guido Feger.

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