«Ich bin realistisch. Wie viele begreife ich einige Ursachen für die aus der Pandemie erwachsenen Probleme, vor denen wir als Bevölkerung und Finanziers des Staates und unsere gewählten Vertreterinnen jetzt stehen. Ob der Schock der Krise, falls wir sie überleben und nicht nur eine Randnote in der Geschichte der Erdbewohner sind, ausreicht, um Gewohnheiten zu ändern, bezweifle ich.

Das besonnene Krisenmanagement und die beruhigende Wirkung in den Ansprachen der Regierung täuschten ein wenig über die dem Markt gehorchenden Schwachstellen des Systems hinweg. Konkret fällt vielleicht vielen auf, dass es die meisten der Kleinkredite und Hilfsgelder, die jetzt an notleidende Kleinunternehmen, an den Mittelstand und die Selbstständigen gezahlt werden, nicht benötigte, hätte das Volk sich 2016 mehrheitlich für ein bedingungsloses Grundeinkommen entschieden. Die Bundesregierung begründete die Ablehnung seinerzeit mit dem Argument, ein solches Grundeinkommen würde die Schweizer Wirtschaft und das System der sozialen Sicherheit schwächen.

Vermutlich wird das System in der kommenden Zeit finanziell stärker geschwächt, als es durch die damalige Annahme der Grundeinkommensinitiative geschwächt worden wäre. Nebenbei wäre vielen Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl, als Bittsteller um die Erstattung ihres Geldes zu ersuchen, erspart geblieben. Eine Künstlersozialkasse, wie sie es in vielen reicheren Ländern gibt, hätte viele Künstler*innen vor der ihnen jetzt drohenden totalen Pleite bewahren können.

Der neoliberale Ansatz, dass jeder sich aus eigener Kraft retten kann, dass es jeder und jedem möglich ist, effektiv und erfolgreich zu sein, wird gerade eindrücklich widerlegt. […] Gerade merken auch hoffentlich viele neoliberale Väter im Homeoffice, wie es sich anfühlt, dass unser konservatives Land auf dem letzten Platz in der Rangliste der Kinderfreundlichkeit steht. Die Fortpflanzung ist vollumfänglich zur Frauensache erklärt worden, Kosten für die Kinderbetreuung sind so absurd hoch, das normalverdienende Paare meist die Entscheidung zur privaten Betreuung treffen müssen, die in aller Regel die schlechter verdienenden Frauen noch weiter aus der Konkurrenzschusslinie der Männer nimmt. Viele der unsozialen, frauen- und kinderfeindlichen Gewohnheiten rächen sich jetzt, da immer mehr spezialisierte Arbeitskräfte fehlen. Egal. Der Bundesrat lehnt ein Nothilfeprogramm für Kinderkrippen ab.

Der Sexismus, der sich in der ungleichen Bewertung von Tätigkeiten offenbart, zeigt sich jetzt auch im Mangel an Pflegepersonal. Meist weiblich. Sind es die McKinsey-Mitarbeitenden, die in Krisenzeiten das Rückgrat eines Landes bilden, oder Pflegende, Verkaufspersonal, Sozialarbeitende? Und natürlich zeigen sich jetzt die Folgen einer teilweise privatisierten Gesundheitswirtschaft, die Medikamenten- und Schutzmaterialherstellung der Effizienz geschuldet ausgelagert und Spitäler der Rendite wegen zusammengelegt hat. […]

Wir sitzen und warten und wir sind so gleich wie seit langem nicht mehr. Gleich ratlos, hilflos und voller Sorgen. Vielleicht gelingt es, einige der Probleme, die uns der Neoliberalismus beschert, nicht zu vergessen. Vielleicht sogar den Umgang der Menschen miteinander, der gerade sehr sorgsam scheint. Die Qualität eines Landes bemisst sich an ihrem Umgang mit den schwächsten Mitgliedern der Gemeinschaft.»

Auszug aus einem Essay von Sybille Berg im Tages-Anzeiger vom 7. April 2020

 

Sibylle Berg (geboren 1962 in Weimar) ist eine deutsch-schweizerische Schriftstellerin und Dramatikerin. Sie schreibt Romane, Essays, Kurzprosa, Theaterstücke und Hörspiele und ist als Kolumnistin tätig.

 


Credits
Zitate: Auszug aus einem Essay im Tages-Anzeiger vom 7. April 2020
Beschreibung: Wikipedia
Foto: Sabina Bobst

Beitrag erstellt von
Laura Hilti, Kunstverein Schichtwechsel