«Eine inzwischen berühmte Analogie des US-amerikanischen Autors David Foster Wallace ist ein bildlicher Ausdruck dessen, was Sprache und ihre Macht für mich bedeuten: ‹Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nicht ihnen zu und sagt: «Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?» Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schliesslich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: «Was zum Teufel ist Wasser?»›
Sprache in all ihren Facetten – ihr Lexikon, ihre Wortarten, ihre Zeitformen – ist für uns Menschen wie Wasser für Fische. Der Stoff unseres Denkens und Lebens, der uns formt und prägt, ohne dass wir uns seiner in Gänze bewusst wären.»

«Wir Kinder, die in verschiedenen Sprachen leben, sehen Mauren, die sich durch unsere Gesellschaft ziehen, die für die meisten Menschen, die ausschliesslich die dominierende Sprache sprechen, vermutlich nicht sichtbar sind. Wir Kinder von zwei oder mehreren Sprachen lernen früh, uns entlang dieser Mauren, über sie hinweg und manchmal mitten durch sie hindurch zu bewegen.»

«Nehmen wir ein Wort: Fremde.
Ein Wort, mit dem Deutschsprechende auch andere Deutschsprechende bezeichnen, die sie als Fremde empfinden, obwohl sie keine sind. Obwohl sie womöglich in keiner anderen Sprache zu Hause sind als der deutschen.
Wir, die Fremden, wachsen auf ein einer Sprache, in der wir als Sprechende nicht vorgesehen sind. In einer Sprache, in der unsere Perspektiven nicht vorkommen, sondern nur die Perspektiven derer, die über uns sprechen. In deren Macht es steht, uns zu kategorisieren, zu markieren, auszusortieren.»

«Stellen Sie sich vor, ein Spanier kommt bei einer Schifffahrt nach Mexiko vom Kurs ab und legt am Hamburger Hafen an. Er ‹entdeckt› für sich also tatsächlich Hamburg, doch nun stellen Sie sich vor, dieser Moment ginge als ‹Entdeckung› Hamburgs nicht in seine persönliche, sondern in die Weltgeschichte ein. Als hätte es vor ihm dort nichts gegeben, keine Geschichte, kein Leben, keine Traditionen. Stellen Sie sich vor, die Hamburger Bevölkerung würde infolge dieser ‹Entdeckung› nicht nur massenhaft ermordet und ihres Besitzes beraubt, sondern fortan auch gegen ihren Widerstand als ‹Mexikanier› bezeichnet.
Es wäre ein Beharren auf der Perspektive der Ignoranz, der Gewalt, des Mordens, der kolonialen Herrschaft – und nichts anderes tun wir, wenn wir die indigenen Völker Amerikas als ‹Indianer› bezeichnen oder wenn wir die Verwendung des N-Worts verteidigen. Wir beharren auf der Perspektive der Kolonisierenden, der Sklaventreiber, der Entmenschlichung.
Menschen so zu bezeichnen, wie sie bezeichnet werden wollen, ist keine Frage der Höflichkeit, auch kein Symbol politischer Korrektheit oder einer progressiven Haltung – es ist einfach eine Frage des menschlichen Anstands.»

«Ich bin eine Benannte. Eine, die untersucht, analysiert, inspiziert wird. Die im Alltag, aber auch auf Konferenzen, in Panels oder Interviews verwundert gefragt wird, wie das denn gehe: Islam und Feminismus, Kopftuch und Empanzipation, Religion und Bildung. Weil die bestehenden Kategorien einfach nicht passen. […]
Viele Jahre glaubte ich, mein Kampf gegen Stereotype könnte irgendwann erfolgreich sein, meine Rolle als Inspizierte sei nur temporär. Doch ich möchte nicht mehr nur reagieren, auf Fragen und Anschuldigungen antworten, Falsches richtigstellen. Ich möchte nicht sprechen, weil ich von anderen dazu aufgefordert wurde, sondern weil ich mich selbst dazu auffordere.»

«Die jüdische Frau. Der schwarze Mann. Die Frau mit Behinderung. Der Mann mit Migrationshintergrund. Die muslimische Frau. Der Geflüchtete. Die Homosexuelle. Die Transfrau. Der Gastarbeiter.
Sie alle werden im Kollektiv benannt und betrachtet. So als wäre es möglich, einen Menschen zu verstehen, ohne Zeit mit ihm zu verbringen und sich auf seine besondere Sicht einzulassen. Ohne seine Widersprüche, seine Makel, seine Fehler zu kennen.»

«Denn solange wir nur sprechen, wenn wir unseren Einsatz erhalten, zu Themen, die uns zugeschrieben werden, so lange werden wir nicht wirklich gehört werden. Wir bleiben Inspizierte. Wir tragen den Panzer.
Darf eine junge, kopftuchtragende Frau, die sich seit ihrer Jugend politisch engagiert, in einer Fernsehtalkshow zum Thema Jugend und Politik sprechen? Darf sie nicht, sagte mir eine Freundin, Redakteurin einer Talkshow, zu der ich eingeladen werden sollte, bevor die Idee wieder verworfen wurde. Mit welcher Begründung? Die Moderatorin habe gesagt: ‹Wir können hier keine Frau mit Kopftuch sitzen haben, ohne dass sie über ihr Kopftuch spricht.›»

«Auf kein Attribut werden muslimische Frauen derart reduziert wie auf dieses Kleidungsstück [das Kopftuch]. Sie werden sogar danach benannt: Kopftuchträgerin. Ihre gesamte Menschlichkeit, ihre gesamte Erfahrungswelt wird darauf reduziert. Ein Leben als wandelnde Informationssäule einer Religion und allem, was damit assoziiert wird, lässt sich kaum aushalten. Trotzdem ist es das Leben, das so viele Musliminnen in unserer Gesellschaft führen.»

«Welchen Bildern und Stereotypen sind Menschen in unserer Gesellschaft ausgesetzt? Was muss Ihr Kind wissen? Welche Fragen muss es beantworten können? Mit welchem Wissen muss es ausgestattet sein, um sein zu dürfen?
Muss es beantworten können, warum seine Augen so geformt sind, wie sei es sind? Muss es die Struktur und Farbe seiner Haare erklären können? Muss es begründen, weshalb seine Haut die Farbe hat, die es hat? Weshalb seine Eltern so glauben, sich so kleiden oder lieben, wie sie es tun?
Viele Kinder müssen das nicht. Wenn ihre Haut creme- oder beigefarben ist und ‹hautfarben› heisst, sich als von selbst erklärt. Wenn ihre Augen rund sind und damit der weissen Norm entsprechen. Diese Kinder müssen nicht die Beziehung und das Sexualleben ihrer Eltern erklären. Sie müssen nicht wissen, wo ihre Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern und Ururgrosseltern geboren wurden und warum sie nicht dorthin zurückgehen. Sie müssen nicht erklären, warum sie nicht woanders sind, sondern hier.»

Auszüge aus dem Buch «Sprache und Sein» von Kübra Gümüşay, S. 22, 34, 42, 48-49, 57-58, 71, 72, 80-81

 


Credits
Text: Kübra Gümüşay (2020). Sprache und Sein. Hanser Berlin.
Bild: re:publica/Gregor Fischer (2016). Kübra Gümüşay. In: Wikipedia.

Links
Buch: Kübra Gümüşay (2020). Sprache und Sein. Hanser Berlin.
Vortrag: Kübra Gümüşay (2017). Organised love. TEDxBerlinSalon. In: YouTube.
Interview: Kübra Gümüşay im Hotel Matze (2020). Wie können wir menschliche Ausgrenzungen überwinden? In: Mit Vergnügen.

Beitrag erstellt von
Laura Hilti, Kunstverein Schichtwechsel, 10.4.2021