Andy Fischli absolvierte den Vorkurs der Zürcher Hochschule der Künste sowie eine Grafiklehre. Danach arbeitete er ein paar Jahre als Freelancer in Werbeagenturen und bei Zeitschriften und zeichnete parallel dazu immer öfter Illustrationen und Comics für diverse Zeitungen. Mit Marianne Studer brachte er von 2007 bis 2013 eine Jahresagenda zu diversen Themen heraus. Seit 2007 zeichnet er nur noch und hat keine Neben- oder Brotjobs mehr. Somit hat er sein «Hobby» zur Haupttätigkeit gemacht. Ansonsten schwimmt er in der Freizeit viel oder läuft querfeldein durch den Wald in Schlaufen, Bögen und Linien. Er backt gern Brot mit mit selbstgezogener Lievito madre. Und ab und zu spielt er Boule. Andy Fischli stammt aus Glarus, wuchs in der Region Zürich auf und arbeitet heute in Zürich. Er ist 47 Jahre alt.
Wo und wie sind Sie aufgewachsen?
Ich bin in Greifensee/ZH in einer Plattenbausiedlung aufgewachsen. Es gab dort tolle Robinsonspielplätze, ich war sehr viel draussen mit anderen Kindern, das war cool. Die Jugend verbrachte ich vermehrt damit, Comics zu lesen und erste Geschichten selber zu zeichnen.
Könnten Sie Ihren Werdegang schildern?
Nach der Sekundarschule wollte ich ans Liceo Artistico oder den Vorkus an der ZHdK. Die Vorkursprüfung hab ich dann geschafft. Das Liceo nicht, wegen Mathe. Nach dem Vorkus habe ich bei Ursula Hiestand in Zollikon die Lehre zum Grafiker gemacht. Auf dem Beruf habe ich aber nicht lange gearbeitet. Ich war als Buchverkäufer und Layouter tätig und habe parallel immer öfter für diverse Zeitschriften und Zeitungen Illustrationen und Comics gezeichnet (Jugendzeitung Toaster, Germanistikmagazin Denkbilder, Zürcher Student*in, Wochenzeitung WOZ, Strapazin), bis ich mich ab 2007 beruflich ausschliesslich aufs Zeichnen und die Kunst konzentrierte.
Gab es bestimmte Ereignisse oder Stationen, die für Ihren Werdegang prägend waren?
Der Wechsel von der Sekundarschule an den Vorkurs an der ZHdK war ein (höchst positiver) Kulturschock. Alle lästigen Schulfächer fielen plötzlich weg und wir Student*innen konnten uns voll und ganz auf unsere Leidenschaften fokussieren und extrem viel ausprobieren.
Und 2008: Da hatte ich die Möglichkeit, an sehr vielen tollen Ausstellungen teilzunehmen. An der Jungkunst, am Fumetto, am Festival Bande Dessinée Lausanne, um nur einige zu nennen.
Zudem 2017: Da wurde ich ans Thuner Literaturfestival Literaare zu einer Ausstellung und einem Podiumsgespräch eingeladen. Das war als Erfahrung sehr spannend und motivierend.
Gab es bestimmte Personen, die für Ihren Werdegang prägend waren?
Meine Eltern und meine Sippschaft. Sie sind oft und nach wie vor der Dünger für meine Arbeit. Und ein paar Lehrer*innen, aber auch Frau Badoux (die Mutter des verstorbenen Comiczeichners Christoph Badoux). Bei ihr war ich in einem Vorbereitungskurs für die Vorkursprüfung. Das erste, was sie sagte war: «Entfernt die schwarze Tube aus eurem Farbkasten. Ihr arbeitet nur mit Farben. Egal wie dunkel der Schatten auch ist, schwarz ist er nie!» Das hat mich schwer beeindruckt. Auch wenn ich heute primär mit schwarzer Tusche zeichne.
Prägend war auch meine Lehrmeisterin Ursula Hiestand, streng aber sehr gerecht, eine grosse Humanistin.
Bücher, Texte und Musik haben mich ebenfalls geprägt.
Hat Sie Ihr Umfeld in Ihrem Werdegang unterstützt?
Ja, es wurden mir nie Steine in den Weg gelegt, was die Leidenschaft fürs Zeichnen betrifft. Alle haben mich machen lassen. Das war gut. (Etwas anderes hätte ich auch gar nicht akzeptiert.)
Welchen Tätigkeiten gehen Sie derzeit nach?
Ich mache Illustrationsaufträge und arbeite an meinen eigenen Sachen. Oder ich fülle Corona-Erwerbsersatzformulare aus für Veranstaltungen und Jobs, die wegen des Virus nicht stattfinden konnten resp. gestrichen wurden.
Erfüllt Sie das, was Sie derzeit machen?
Das Zeichnen ja. Weil es weitestgehend selbstbestimmt ist und mir fast niemand dreinredet. Ausser, es geht um eine Auftragsarbeit. Dort bin ich auch kompromissbereit und es macht Spass mit Kunden an etwas rumzufeilen.
Denken Sie, dass Sie einen Einfluss darauf haben, ob Ihre Tätigkeiten erfüllend sind?
Besonders erfüllend ist es, wenn ich die Themen und Geschichten selbst wählen und nach meiner Fantasie ausarbeiten kann. Für mich ist es wichtig, die Freude am Prozess des Zeichnens nicht zu verlieren. Deshalb versuche ich, während den kreativen Phasen nicht über spätere Bewertungen von aussen nachzudenken, mich nicht durch Vergleiche beeinflussen oder beirren zu lassen, aber auch den strengen inneren Kritiker zu ignorieren. (In Zeiten von Social-Media leider nicht immer ganz einfach.)
Die Strategie ist, mich immer wieder daran zu erinnern, worum es mir geht: Meine Ideen umzusetzen, dabei meinen Idealen treu zu bleiben und keine fremden Erwartungen erfüllen zu wollen.
Was oder wer inspiriert Sie im Alltag?
Das ist meist mit anderen Personen verknüpft. Oft kommt mir eine Idee bei Gesprächen. Oder in der Erinnerung an Gespräche. So entstehen Dialoge und Geschichten. Das kann ein Satz sein, der dann einen nächsten ergibt und am Ende ergibt sich daraus eine Geschichte. So war es z.B. beim Buch «Eins führt zum Andern». Eine Kollegin erzählte, wie ihre Mutter den Vater einmal fragte: «Was wünschst du dir zum Geburtstag?» Dieser antwortete: «Ich brauche ein neues Gewehr!» Das fand ich so witzig und ich habe das dann weitergesponnen, bis es ein Buch war.
Der Weg dorthin ist oft lang und führt tief ins Unterholz und durchs Gedankengestrüpp. Das ist das Tolle daran, sich zu verlieren und immer weiterzudenken und zu skizzieren, ohne dass man weiss, wo der Weg hinführt.
Bei Auftragsarbeiten ist der Text oder das Thema meist vorgegeben.
Stilistisch inspirieren mich zurzeit Edward Goreys filigranen abgründig-witzigen Zeichnungen.
Und wie bereits erwähnt: Auch Bücher oder Textpassagen können mich inspirieren.
«Realität muss gelernt werden.» oder: «Berufe lenken ab von der Existenz.» Aglaja Veteranyi.
Was oder wer gibt Ihnen im Alltag Kraft und Energie?
Das sind die Personen, die mir am nächsten stehen, die körperliche Bewegung im Wasser oder im Wald. (Und natürlich eine ausgewogene Ernährung.)
Ausserdem ist es die Tätigkeit selbst (das Zeichnen), die mir Energie und Kraft gibt. Jemand sagte mal zu mir: «Wenn du zeichnest, verändert sich dein Atem. Er wird viel ruhiger.»
Und nicht zuletzt sind es all jene Menschen, die Interesse an meinen Arbeiten und Büchern haben. Logisch.
Es gibt «magische Momente», in denen alles zu passen scheint. Momente, die erfüllen, inspirieren und Kraft geben. Momente, die bestätigen, dass sich der Einsatz lohnt und dass das, was man macht, sinnhaft und wertvoll ist. Haben Sie solche Momente in Bezug auf Ihre eigenen Tätigkeiten schon erlebt?
Magische Momente kommen eher selten vor. Das könnte vielleicht die Jungkunst und das grosse Interesse an den Dreiaugenfiguren gewesen sein. Oder das Podiumsgespräch an der Literaare. In Bezug auf die Kunst gibt es Momente, in denen ich sehr zufrieden bin mit dem Ergebnis. Dann bin ich entspannt und ruhig. Das kommt dem Begriff «Erfüllung» wohl am nächsten. Zeichnen hat für mich im weitesten Sinne eine therapeutische Funktion. Es ist eine Rückzugsmöglichkeit. Es bringt mich (meist) ins Gleichgewicht. Und – weil ich ja nicht nur ein arbeitendes Subjekt bin – gibt es selbstverständlich noch andere Momente und Zustände die mich erfüllen und mir Kraft geben. Aber darüber schweige ich hier. 😉
Tun Sie aktiv etwas dafür, damit sich solche magischen Momente einstellen können?
Das kann man schwer erzwingen. Und dann wäre es ja nicht mehr magisch. Sondern eben aktiv eingestellt.
Gibt es Momente, in denen Sie an dem, was Sie machen, zweifeln?
Klar, das kommt ab und zu vor. Die Unsicherheit, das Zweifeln, dass es harzt und ein Bild nicht zufriedenstellend ist. Da hilft mir zum Beispiel Louise Bourgeois, trotzdem stoisch zu bleiben und weiterzumachen:
«Worauf es ankommt, der einzige Sinn und Zweck, ist der Versuch zu verstehen, was es mit uns auf sich hat, ist uns selbst zu prüfen. Kunst kann dabei helfen. In ihr stecken Möglichkeiten der Selbstprüfung. Ich habe einmal gesagt: ‹Jeden Tag muss man seine Vergangenheit aufgeben oder sie hinnehmen, und wenn man sie nicht hinnehmen kann, dann wird man Bildhauer.› Es ist natürlich ein Privileg zu dieser Selbstprüfung in der Lage zu sein, insbesondere mit Hilfe der Kunst. Prüfen setzt Hartnäckigkeit voraus, die Hartnäckigkeit zu sehen, sich zu konzentrieren. Skepsis öffnet den Weg für die Prüfung, räumt die Blindheit des Dogmas beiseite, des bequemen Glaubens, des bequemen Sehens.»
Können Sie schwierigen Momenten rückblickend etwas Positives abgewinnen?
Nein, solchen Momenten kann ich nichts Positives abgewinnen. Es zermürbt und vergällt einem ja die Freude an der Arbeit. Solche Momente versuche ich zu vergessen.
Gibt es etwas, was Sie rückblickend anders machen würden?
Eventuell würde ich öfter die Schule schwänzen. Und ich wäre konsequenter in der Umsetzung meiner eigenen Projekte und Bücher. Und ich würde an meinem manchmal doch recht nervigen Perfektionismus arbeiten, resp. ihn reduzieren.
Möchten Sie mit Ihren Tätigkeiten etwas zur Gesellschaft beitragen?
Ich bin der Meinung, dass man den Leuten nicht gerecht wird, wenn man sie permanent zu sog. positivem Denken oder einer positiven Einstellung ermuntert oder nötigt. Das möchte ich in meine Arbeiten einfliessen lassen. Der optimistischen Zerstreuung etwas entgegensetzen. Und dem servilen Alles-Wird-Gut-Geschwafel. Meist ist das ja nur nachgeplapperte Inhaltslosigkeit, die die Ohnmacht des Gegenübers offenlegt. Oder es handelt sich um autosuggestive Sermone, bei denen man lediglich als Zuhörer oder Statist fungiert. Das ist oft schwer rauszukristallisieren.
Ich halte es für einen Fehler, die Welt in positiv und negativ einzuteilen.
«Die Müdigkeit steckte vor allem in ihrem Rücken und im Gesicht. ‹Immer schön gerade halten und lächeln› – das war die Losung im Geschäft. Wenn sie aus dem Laden heraus war, musste sie immer eine ganze Weile finster dreinschauen, damit ihr Gesicht sich wieder natürlich anfühlte.» Carson McCullers
Ist Ihnen die Anerkennung von anderen Personen bzw. von der Öffentlichkeit wichtig?
Grundsätzlich ist man innerhalb seines Metiers doch immer auf Anerkennung und Wertschätzung angewiesen. Es ist auch ein Antrieb. Es ist gut, wenn ich merke, dass meine Arbeit etwas in den Menschen bewegen oder auslösen kann und sie sich vielleicht sogar darin wiedererkennen.
Wie gut können Sie von dem, was Sie beruflich tun, leben?
Salopp ausgedrückt: Ich kann ein würdevolles Dasein fristen und hoffe, dass das bis zum Schluss so sein wird. Ich denke wenig über Geld und «das Alter» nach und habe es mir abgewöhnt, allzu weit in die Zukunft zu blicken. Es verursacht nur unnötigen Stress. Wer weiss schon, was in zwei, fünf oder 10 Jahren ist? Vielleicht bin ich bis dann tot, eventuell bin ich ausgewandert oder sonstwas. Die finanzielle Situation hat dahingehend einen Einfluss, dass ich kein regelmässiges Einkommen habe. Dieses ist grossen Schwankungen unterworfen. So habe ich haushalten und manchmal auch verzichten gelernt.
Gibt es etwas, das Sie derzeit besonders beschäftigt?
Was mich seit Jahrzehnten beschäftigt sind die Emotionen, die Unzulänglichkeiten der Menschen. Was mich langfristig beschäftigt ist nicht daran gebunden, was gerade modern ist oder dem Zeitgeist entspricht. Und es hat mit der Härte und Kälte unserer ökonomisierten Welt zu tun. Mit dem nicht wegzuredenden Konkurrenz- und Wettbewerbsprinzip.
«Wozu das alles? Das hätte sie gern gewusst. Wozu, in Teufels Namen? Wozu all die Pläne, wozu die Musik? Wenn dabei nichts weiter herauskam als diese Falle: ins Geschäft, nach Hause zum Schlafen, dann wieder ins Geschäft.» Carson McCullers
Aber selbstverständlich gibt es auch Dinge, die mich derzeit beschäftigen. Z.B. Corona und der gesellschaftliche und politische Umgang damit. Dieses Virus ist eine ernste Sache und es wurde sicher nicht von irgendwelchen Echsenmenschen erfunden oder von Bill Gates oder sonst wem verbreitet (einer bösen Fledermaus vielleicht? Eventuell von Batman himself?). Aber die Fantasie, die solche absurden Ideen und Verschwörungstheorien zustande bringt, fasziniert mich schon immer wieder. Voll die Science-Fantasy-Fiction.
Gibt es etwas, womit Sie sich in Zukunft gerne (verstärkt) beschäftigen würden?
Ich werde – als thematisch logische Weiterführung – die schweren, weniger konformen, dafür ernsteren und abgründigeren Themen noch mehr vertiefen.
Wofür sind Sie im Leben besonders dankbar?
Diese Art kosmische, religiöse und grundsätzliche Lebensdankbarkeit empfinde ich nicht. Ich bin all jenen dankbar, die sich für meine Arbeit interessieren, begeistern und fördern (oder gefördert haben). Und dafür, dass ich kein Loch in den Zähnen habe.
«Bekanntlich gibt es viele Religionen in der Welt, vielleicht acht oder zehn, nicht nur eine oder zwei oder drei. Sie alle sagen einem, wie man etwas zum Ausdruck bringen soll. Sie halten sich jeweils für einzig wahr. Ihnen allen entgegne ich ‹nein›. Ich will mich selbst zum Ausdruck bringen. Sie haben mir nichts vorzuschreiben. Sie können mir nichts zeigen. Man kann seinen Weg finden, indem man sie vergleicht, aber keine von ihnen findet deinen Weg für dich.» Louise Bourgeois
Interview
Laura Hilti, Januar 2021
Links
www.andyfischli.ch
Instagram: #andyfischli
Nachruf auf Andy Fischli (1973–2022)
Empfehlungen
Bücher
Louise Bourgeois: Ein Gespräch mit Louise Bourgeois, Donald Kuspit, Piet Meyer Verlag
Carson McCullers: Das Herz ist ein einsamer Jäger, Diogenes
Aglaja Veteranyi: Wörter statt Möbel, edition spoken script
Comics/Cartoons
Edward Gorey: The Lugubrious Library, Diogenes
Anders Nilsen: Grosse Fragen, Atrium
/ The End, Fantagraphics
Calvin & Hobbes: Macht’s gut, Freunde, Krüger Verlag
Credits
Porträtfoto: Oli Zenklusen, www.lesdelicesduchaos.ch
Alle Bilder: Andy Fischli
Dieses Interview ist Teil des Projekts «Magic Moments» des Kunstvereins Schichtwechsel, in dessen Rahmen Menschen zu ihrem Werdegang, ihren Tätigkeiten sowie magischen und schwierigen Momenten befragt werden.
Das Projekt wird gefördert durch die Kulturstiftung Liechtenstein und die Stiftung Fürstl. Kommerzienrat Guido Feger.