Ursula Wolf ist seit vielen Jahren als Autodidaktin künstlerisch tätig. 2019 entschloss sie sich zum Studium HF Bildende Kunst in St. Gallen. Derzeit arbeitet sie täglich am Langzeitprojekt «was heute wichtig war», in dem es um Menschen und Ereignisse geht. Sie sind es, die sie inspirieren, ihr immer wieder neue Wege eröffnen und sich in ihren Arbeiten widerspiegeln. Ursula Wolf ist in Liechtenstein aufgewachsen und lebt auch heute noch dort. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und ist 56 Jahre alt.
Wo und wie sind Sie aufgewachsen?
Ich bin mit meiner älteren Schwester und meinem jüngeren Bruder am Eschnerberg aufgewachsen. Dort oben ist die Natur – heute noch – wunderschön und man hat einen weiten Blick. Wir hatten damals einen Hund, Katzen, Meerschweinchen und sogar Enten. Ich bewegte mich gerne im Freien oder war oft auf dem Bauernhof in der Nachbarschaft zu Besuch. Ich liebte Blumen und alles, was kreucht und fleucht. «Grusiges» anzufassen war kein Problem; ich kannte keine Berührungsängste.
Ich durfte eine wirklich schöne Kindheit erleben und fühlte mich geliebt. Schon als Kind habe ich gerne gemalt, gebastelt und frei gespielt. Meine Eltern unterstützten mich, da auch sie gerne gestalteten. Später besuchte ich den Klavierunterricht und ging ins Kunstturnen.
Zu meinen Erinnerungen gehören die Textilfabrik Marxana mit ihren vielen Räumen und das Verstecken, wo meine Nana wohnte, sowie das Städtli Werdenberg mit dem Buchser Seeli und dem Schloss, wo meine Grosseltern daheim waren.
Könnten Sie Ihren Werdegang schildern?
Ich schnupperte in drei Berufen. Als Grafikerin bei Louis Jäger, in einem Reisebüro in Vaduz und als Kindergärtnerin in Eschen. Kreativ sein und mit Menschen zu arbeiten interessierte mich und so wurde ich Kindergärtnerin. Die Ausbildung war vielseitig: Handwerk, Musik und Theater aber auch die Fächer Pädagogik und Psychologie kamen nicht zu kurz. Trotzdem nahm ich mir immer Zeit zum Reisen und wechselte auch öfters den Arbeitsort. Ich liebte meinen Beruf, wollte mich aber unbedingt weiterbilden.
Mit 24 stellte ich mich bei der Kunstschule in St. Gallen vor. Ich entschied mich aber vorerst für eine Sportausbildung. In meiner freien Zeit war ich zu dieser Zeit in der Kunst als Autodidaktin tätig. Auf einer siebenmonatigen Weltreise – ein Abenteuer, das ich nie vergessen werde – entdeckte ich das Tauchen und die faszinierende Unterwasserwelt.
Mit Familie und drei Kindern war für mich klar, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausübe. Dafür entwickelte sich meine künstlerische Arbeit immer weiter. Nach einem eineinhalbjährigen USA-Aufenthalt mit Familie konnte ich meine erste Ausstellung in Zug realisieren. Darauf folgte ein Auftrag für Entwurf und Fertigung von hundert eL-Figuren (Einkaufland Liechtenstein). Daraus ergaben sich wiederum neue Aufträge, Projekte, Ausstellungen und Publikationen. Mit meiner Kunstfigur und Avatar «Flotti Löwenherz» trat ich 2011 an die Öffentlichkeit und wurde auf Social Media aktiv.
Im Jahr 2016 machte ich den zweijährigen Vorkurs im Gewerblichen Berufs- und Weiterbildungszentrum St. Gallen. Anschliessend schloss ich die HF auf Bildende Kunst ab. Meine erste Ausstellung als «diplomierte» Künstlerin war im Herbst 2019 im ARTContainer in Zürich.
Gab es bestimmte Ereignisse oder Stationen, die für Ihren Werdegang prägend waren?
Der frühe Tod meiner Mutter schmerzte mich sehr. Ich musste fortan meine Entscheide alleine treffen und ich meine, dass ich viele meiner Entscheide intuitiv richtig getroffen habe. Als die Kinder klein waren, hatte ich wenig Zeit, aber mein Bedürfnis kreativ zu arbeiten war immens. Zudem inspirierten mich die Kinder und zwangen mich dazu, das Zufällige, nicht Geplante positiv anzunehmen und eine Stärke daraus zu entwickeln. Während unserer Zeit in den USA entwickelte ich viele Ideen, malte und malte. Es entstand die Atlanta, die Vorgängerin der eL-Figuren und wohl auch die Inspiration zu Flotti und ihren Freunden. Zurück im Ländle gewann ich den Kunst-am-Bau-Wettbewerb «Eintrachtskreisel» in Eschen und es folgten weitere Aufträge für Skulpturen. Auch schaffte ich den (späten) Einstieg in die Digitalisierung und arbeite heute täglich mit diversen Grafikprogrammen und bin auf vielen Social Media-Kanälen aktiv.
Gab es bestimmte Personen, die für Ihren Werdegang prägend waren?
Es sind die kleinen Äusserungen verschiedener Menschen, positiv wie negativ, die mein Inneres schärften und mich dazu anhielten, genauer hinzuschauen und zu reflektieren. Meistens waren es die kritischen Diskussionen, die noch lange nachklangen und meinen Ehrgeiz anstachelten.
Hat Sie Ihr Umfeld in Ihrem Werdegang unterstützt?
Sie waren mir wohlgesinnt und interessierten sich für mein Schaffen. Mich zu unterstützen ist oft gar nicht so einfach. Mein Mann Markus hat mich in all den Jahren immer unterstützt und auch kritisch meine Projekte und Arbeiten hinterfragt und mit mir diskutiert, was sehr wichtig für mich war und ist.
Welchen Tätigkeiten gehen Sie derzeit nach?
Ich arbeite täglich an meinem Langzeitprojekt «was heute wichtig war», indem ich aus den Liechtensteiner Landeszeitungen Wichtiges und Unwichtiges zeichne und gegenüberstelle. Die aktuellste Ausgabe findet man auf meiner Website. Eine Auswahl der letzten Jahre wird neuerdings auf einem grossen Bildschirm im Schaufenster des Buchladens Omni in Schaan gezeigt. Von Oktober bis Dezember arbeite ich an einem Projekt im Künstleratelier in Berlin und befinde mich derzeit in der Vorbereitungsphase.
Noch im September plane ich eine Body Art Performance. Diese kommt «Us’m Buuch» und heisst auch so. Meine Projekte haben immer mit Menschen zu tun. So bin ich auch mit Flotti Löwenherz viel unterwegs, treffe auf interessante Personen und ihre Geschichten. Flotti ist mein Avatar, den ich über viele Jahre aufgebaut habe und der mir die Möglichkeit gibt, auf eine «flotti Art» Kunst zu machen. Auf Social Media hat Flotti viele Follower.
Erfüllt Sie das, was Sie derzeit machen? Warum oder warum nicht?
Es ist wohl mehr ein Gefühl, das sich sehr oft sehr gut anfühlt, aber mich dennoch manchmal zweifeln lässt. Es ist das, was ich kann und ich habe keine andere Wahl, da es mein tiefes Bedürfnis ist, Kunst zu kreieren. Insofern ist das Warum nicht wichtig für mich.
Denken Sie, dass Sie selbst darauf einen Einfluss haben, ob Ihre Tätigkeiten erfüllend sind?
Natürlich. Ich denke, da unterscheide ich mich nicht von anderen Berufsgattungen. Ich habe eine Vorliebe für Langzeitprojekte, die mit jedem Tag weiterwachsen und mich erfüllen. Auch möchte ich mutig Neues ausprobieren und meinen eigenen Weg gehen. Je mehr ich meine Arbeit reflektiere, umso nachhaltiger erfüllt sie mich. Meine positive Haltung hilft mir, mich auf neue Situationen einzustellen. Und vieles werde ich dem Zufall überlassen müssen und das Beste daraus machen.
Was oder wer inspiriert Sie im Alltag?
Das Überraschende, das Zufällige im Alltag zieht mich an und regt meine Fantasie immer wieder an. Dies geschieht häufig und fast regelmässig. Ich kann mich eigentlich darauf verlassen und verspüre keinen Druck. Beobachtungen und Gespräche inspirieren mich zudem. Alles ist da, man muss es nur sehen.
Was oder wer gibt Ihnen im Alltag Kraft und Energie?
Meine Familie gibt mir diese Kraft, fordert aber gleichzeitig viel Energie zurück. Sportliche Aktivitäten und der tägliche Spaziergang mit dem Hund helfen mir, in der Balance zu bleiben. Zu Fuss unterwegs zu sein, hilft mir, meine Gedanken zu ordnen, bei mir zu sein.
Meine Zeit ist eigentlich immer ausgefüllt. Ich verbringe selten eine Stunde mit Nichtstun, mit einfach mal blau machen, auf der faulen Haut liegen. Das kommt vielleicht daher, dass ich, als die Kinder noch klein waren, jede Minute nutzen musste, um meinem Schaffen nachgehen zu können. Das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben, treibt mich an und erzeugt bei mir Energie. Sich immer an der Grenze des Möglichen zu bewegen, kann durchaus waghalsig sein, wie ich aus persönlicher Erfahrung lernen musste. Eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte – und gerade dann sind gute Freunde sehr wichtig.
Es gibt «magische Momente», in denen alles zu passen scheint. Momente, die erfüllen, inspirieren und Kraft geben. Momente, die bestätigen, dass sich der Einsatz lohnt und dass das, was man macht, sinnhaft und wertvoll ist. Haben Sie solche Momente in Bezug auf Ihre eigenen Tätigkeiten schon erlebt?
Ja, es gab solche Momente. Sie sind unbeschreiblich. Ein berauschendes, kribbelndes Bauchgefühl. Ich finde nicht die passenden Worte, um diese Momente beschreiben zu können. Ich würde ihnen die Magie nehmen.
Tun Sie aktiv etwas dafür, damit sich solche magischen Momente einstellen können?
Ich arbeite intensiv und ausdauernd. Klar, wie bei jeder Arbeit gibt es mal ein Tief oder einen Durchhänger. Ich sag dann zu mir «dranbleiben und authentisch bleiben». Und dann sind es diese Zufälle, die mich überraschen und die ich nicht beeinflussen kann, aber die machen es umso magischer!
Gibt es Momente, in denen Sie an dem, was Sie machen, zweifeln?
Natürlich gibt es solche Momente. Ich setze hohe Erwartungen an mich und einiges lässt sich oft nicht so umsetzen, wie ich es mir vorstelle. Wenn ich dann plötzlich alles in Frage stelle, muss ich raus in Freie, treibe Sport, laufe weite Strecken, suche ein Gespräch oder greife zum Skizzenbuch und male drauflos.
Können Sie schwierigen Momenten rückblickend etwas Positives abgewinnen?
Immer wieder, denn an jenen bin ich gewachsen, sie haben mich in meinem Schaffen gestärkt. Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass es sich lohnt, sich diesen Situationen zu stellen und sie durchzustehen. Es hat mich immer weitergebracht.
Gibt es etwas, was Sie rückblickend anders machen würden?
Nein, ich würde es wieder so machen. Mein Blick ist in die Zukunft gerichtet. Wenn ich die Zeit jetzt nicht nutze, wann dann?
Möchten Sie mit Ihren Tätigkeiten etwas zur Gesellschaft beitragen?
Caspar David Friedrich – ein bedeutender Maler und Zeichner der deutschen Früh-Romantik – schrieb: «Die Kunst mag ein Spiel sein, aber sie ist ein ernstes Spiel.» Meine Arbeit soll Freude wecken, neugierig machen und beim näheren Betrachten Fragen aufwerfen, die interessante Gespräche zulassen. Etwas sichtbar zu machen gehört oft auch zum Inhalt meiner Arbeiten. Beim Projekt «Who cares?» des Kunstvereins Schichtwechsel konnte ich auf ein brisantes Thema, nämlich der häuslichen Pflege durch Care-Migrantinnen, aufmerksam machen.
Ist Ihnen die Anerkennung von anderen Personen bzw. von der Öffentlichkeit wichtig?
Eine wahre Anerkennung hilft dem künstlerischen Schaffen. In unserer Gesellschaft verstanden zu werden, kann sich nachhaltig auswirken. Ein Applaus ist das eine – das Interesse ist die wirkliche Anerkennung.
Gibt es etwas, das Sie derzeit besonders beschäftigt?
Die Corona Pandemie beschäftigt derzeit alle und wirkt sich auch auf meine Pläne aus. Wenn es klappt, bin ich von Oktober bis Dezember im Atelier in Berlin. Mal sehen, wie sich das anfühlt. Alleine in einer grossen Stadt, weg von der Familie. Ich werde mich aber auch dort denselben Themen zuwenden wie hier. Mich interessieren die Menschen, der Zufall, Heimat, Grenzen und soziale Gerechtigkeit.
Gibt es etwas, womit Sie sich in Zukunft gerne (verstärkt) beschäftigen würden?
In naher Zukunft steht für mich das Projekt Berlin im Mittelpunkt. Generell will ich mich stärker dafür engagieren, wie ich die Kunst zu den Menschen bringe. Ich versuche derzeit, neue Kunstformen im öffentlichen Raum zu inszenieren, nicht zuletzt auch jene Menschen zu bewegen, die Kunst eher meiden.
Wofür sind Sie im Leben besonders dankbar?
Mit zunehmendem Alter verstärkt sich mein Bewusstsein, wie wichtig es ist, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben und dieses Urvertrauen weitergeben zu können.
Interview
Laura Hilti, September 2020
Links
www.ursulawolf.li
Credits
Fotos «Who cares?»: Daniel Gassner
Alle anderen Fotos: Ursula Wolf
Dieses Interview ist Teil des Projekts «Magic Moments» des Kunstvereins Schichtwechsel, in dessen Rahmen Menschen zu ihrem Werdegang, ihren Tätigkeiten sowie magischen und schwierigen Momenten befragt werden.
Kuratiert von Stefani Andersen und Laura Hilti, Kunstverein Schichtwechsel.
Gefördert durch die Kulturstiftung Liechtenstein und die Stiftung Fürstl. Kommerzienrat Guido Feger.