«Was mich in diesem Zusammenhang am meisten beunruhigt, sind die politischen Entscheidungen, die davon ausgehen, dass sogenannt produktive Mitglieder der Gesellschaft gegenüber den «unproduktiven» Mitgliedern bevorzugt werden sollten. Solche Berechnungen setzen voraus, dass der Wert eines Lebens an seiner wirtschaftlichen Produktivität zu messen ist. Es ist äusserst wichtig, sich dieser Art von Kalkül zu widersetzen, wo immer es in unserem Leben auftaucht. Es besagt, dass junge und alte Menschen nicht wertvoll sind, dass Menschen mit Behinderungen nicht so viel wert sind wie jene, die gesund sind. Dieses Kalkül zeigt uns auch die Verbindung zwischen Formen des Kapitalismus und Formen des Faschismus auf, sodass wir uns ihm in all seinen Ausprägungen widersetzen sollten. Jede anständige Gesellschaft sorgt für junge und alte Menschen oder für all jene, die aufgrund ihrer körperlichen Verfassung nicht mehr am Arbeitsleben teilnehmen können oder in ihrer Teilhabe eingeschränkt sind.«Tatsächlich ist es manchmal schwierig, Menschen dazu zu bringen, sich selbst als Teil eines Netzwerks von Lebewesen und als Teil einer globalen Gemeinschaft von Menschen zu verstehen. Diese globale Perspektive ist schwierig einzunehmen, weil sie unser individuelles Selbst so klein erscheinen lässt. Aber die Demut, die mit diesem Gefühl der Kleinheit einhergeht, ist vielleicht genau das ethische Gefühl, das wir brauchen, um den Planeten zu erhalten.»
«Wir sollten ernsthafter über öffentliche Bildung nachdenken. Mit öffentlicher Bildung meine ich nicht nur Schulen und Universitäten, sondern ein öffentliches Leben, in dem wir lernen, gemeinsam über die Themen nachzudenken und zu reflektieren, die uns alle betreffen, einschliesslich Rassismus, Klimazerstörung und das Gesundheitswesen. Das ist schwierig im Zeitalter der sozialen Medien, wo so viele Unwahrheiten frei kursieren. Wir müssen also versierter darin werden, wie wir diese populären Kommunikationsformen nutzen, um verschiedene Öffentlichkeiten aufklären zu können.»
«Vielleicht ist dies ein Moment, in dem wir unsere Vorstellung davon, was Freiheit ist, überdenken sollten. Einige von uns sind es gewohnt, über Freiheit als persönliche Freiheit zu denken. Was aber, wenn unser soziales Zusammenleben die Grundlage unserer Freiheit ist? Das war die Ansicht der deutschen Philosophin Hannah Arendt: Wir verstehen uns als frei, wenn wir in der Mitte der sozialen Welt eine Lücke für uns finden, um eine neue Realität zu schaffen.
Auszug aus dem Interview «Wir sollten unser Verständnis von Freiheit überdenken» von Andreas Tobler mit Judith Butler, Tages-Anzeiger, 29.7.2021
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Interview: «Wir sollten unser Verständnis von Freiheit überdenken» von Andreas Tobler mit Judith Butler, Tages-Anzeiger, 29.7.2021
Credits
Bild: Samuel Schalch, Tages-Anzeiger
Auszug Interview: «Wir sollten unser Verständnis von Freiheit überdenken» von Andreas Tobler mit Judith Butler, Tages-Anzeiger, 29.7.2021
Beitrag erstellt von
Laura Hilti, Kunstverein Schichtwechsel, 1.8.2021