Lilian Hasler hatte als junge Frau den starken Wunsch, Bildhauerin zu werden. Dies war in den späten 70er Jahren gar nicht so einfach, aber sie konnte in einer Bildhauerunternehmung arbeiten und berufsbegleitend die Kunstgewerbeschule in Bern besuchen. Anschliessend wurde sie Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Zürcher Bildhauer in Schlieren, wo sie heute noch arbeitet und im Vorstand aktiv ist. Sie absolvierte ausserdem einen MAS in Cultural and Gender Studies an der ZhdK Zürich und einen CAS in Applied History an der Universität Zürich. Als Präsidentin von Visarte.Liechtenstein ist es ihr ein Anliegen, die Wertschätzung für den Beruf der Künstler_innen im Land immer wieder von Neuem zu bekräftigen und gute Bedingungen für ein Künstlerleben zu schaffen. Als Dozentin ist es ihr wichtig, Fragen von Gestaltung und Präsentation mit den Schülerinnen und Schülern zu verhandeln. Lilian Hasler ist eine leidenschaftliche Berggängerin. Sie stammt aus Eschen in Liechtenstein und arbeitet und wohnt heute in Zürich und Eschen. Sie hat zwei Kinder grossgezogen und hat vier Enkelkinder, die sie regelmässig betreut. Sie ist 60 Jahre alt.

Wo und wie sind Sie aufgewachsen?

Ich bin in den 60er Jahren im Kanton Aargau aufgewachsen, weil mein Vater in der Schweiz berufstätig war. Die Schulferien haben wir regelmässig in Eschen verbracht, da der Grossbauernhaushalt meines Grossvaters alle Ressourcen seiner Kinder und Grosskinder absorbierte.

In der Schweiz war ich als Einzelkind eine ganz passable Schülerin und habe schon als 10-Jährige mit dem Orientierungslaufsport begonnen, wo ich es ins Schweizer Nationalkader B schaffte. Sport, draussen sein, in Bewegung sein, war für mich schon als Kind wichtig.

Die Ferien in Eschen waren jeweils ein Highlight, weil da auf dem Hof und mit den Traktoren und den Cousinen und den Cousins und dem Onkel und den Grosseltern einfach eine Welt aufging, die man im Aargau nicht leben konnte. Dort lebten wir in einer 4-Zimmer-Wohnung. Die Idee der Kleinfamilie, die in den 60er Jahren den ökonomischen Aufschwung versprach, konnte mich nie ganz befriedigen. Meine Läufe im Wald, die Wettkämpfe an Schweizerischen Orientierungslaufveranstaltungen, die Mitgliedschaft im Blauring haben mir aber viel Freiheit gegeben.

 

Könnten Sie Ihren Werdegang schildern?

Als 16-jährige Schülerin der Bezirksschule hatte ich keine Lust mehr auf die Kantonsschule und wollte Bildhauerin werden. Der Vater einer Mitschülerin war Bildhauer, was mich inspirierte. Mein Zeichnungslehrer hat mich motiviert, diesen Weg einzuschlagen. Meine Eltern waren anfänglich skeptisch, da dieser Beruf in unserem Familienumfeld nicht vertraut war. Durch mein kontinuierliches Training als Läuferin war ich aber recht willensstark und konnte meine Wünsche umsetzen.

Nach der Ausbildung und dem Besuch der Kunstgewerbeschule Bern habe ich mich sehr schnell in einer Ateliergemeinschaft eingemietet, wo ich heute noch arbeite. Die Auseinandersetzung mit den Künstlerkollegen und das stete Ringen um Arbeitsprozesse und die Formfindung haben mein Werk beeinflusst.

Als meine beiden Kinder erwachsen waren, habe ich ein Werkjahrstipendium vom Land Liechtenstein erhalten, das ich in Indien verbrachte. Indien interessierte mich weniger als esoterisches denn als ein Land der ungemeinen Gegensätze. Nebst grosser Armut existiert ein unermesslicher Reichtum. Mich interessierte, was aus dem Aufeinandertreffen dieser Pole entsteht. Mein Partner Gaudenz hat anschliessend für eine Schweizer Firma eine Anstellung in Indien angenommen, sodass wir über 6 Jahre in Indien lebten. Dies hat meine Denk- und Arbeitsweise sehr geprägt.

«Lilian with Indira», 2010, Fotomontage

Gab es bestimmte Ereignisse oder Stationen, die für Ihren Werdegang prägend waren?

Die 80er Jahre in Zürich, die Zeit des autonomen Jugendzentrums AJZ und der Jugendunruhen waren prägend. Durch das Ausbrechen aus einer normativen Familienstruktur und dem Ausprobieren neuer Wohn- und Arbeitsformen haben ich viele Erkenntnisse über mögliche soziale Verhältnisse gewonnen.

Die Ateliergemeinschaft hat meinen Werdegang stark beeinflusst. Die Gespräche und auch Streitereien um Form und Inhalt, aber auch die Möglichkeit, grosse Maschinen und Gerätschaften gemeinsam anzuschaffen, haben mich entscheidend weitergebracht.

Im Aussenatelier, 1990

Der Aufenthalt in Indien hat meine Art und Weise, auf Europa und die Welt zu schauen, nachhaltig verändert.

 

Gab es bestimmte Personen, die für Ihren Werdegang prägend waren?

Robert Allgäuer war als Mentor eine wichtige Figur zu Beginn meiner künstlerischen Tätigkeit. In Gesprächen und auch im konkreten Support konnte ich enorm profitieren.

«Fixer», 1992

Mein Partner Gaudenz, mit dem ich seit bald 30 Jahren mein Leben verbringe, ist mir permanenter Sparringpartner. Mit ihm kann ich meine Arbeit kritisch reflektieren und entwickeln.

Auch meine beiden Kinder haben meine Lebensstruktur determiniert. Während meine Künstlerkollegen in jungen Jahren einen Free-Style-Lebensstil pflegten, war es für mich wichtig, meinen Tag klar zu strukturieren. Ich habe immer von 9 bis 15 Uhr ohne Unterbruch gearbeitet und war dann ab 16 Uhr als Familienfrau tätig. Die Auseinandersetzung mit meinen Kindern pflege ich auch heute gerne, obwohl sie längst erwachsen sind und ihre eigenen Familien haben. Den Diskurs mit jungen Menschen schätze ich enorm.

 

Hat Sie Ihr Umfeld in Ihrem Werdegang unterstützt?

Meine Eltern und später auch mein Partner haben meine Arbeit immer unterstützt. Gerade als Künstlerin braucht es manchmal nebst ideellem auch finanziellen Support. In Notsituationen habe ich diesen immer erhalten.

 

Welchen Tätigkeiten gehen Sie derzeit nach?

Ich arbeite in meinen beiden Ateliers an meinen künstlerischen Projekten, unterrichte Bildhauerei an drei verschiedenen Kunstinstitutionen und bin als Präsidentin von Visarte.Liechtenstein und als Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Zürcher Bildhauer AZB auch kulturpolitisch tätig.

«Ich wasche dir die Füsse: Wunderkammer der Transzendenz»

Erfüllt Sie das, was Sie derzeit machen?

Ich habe schon als junge Frau festgestellt, dass ich nicht gerne in hierarchischen Verhältnissen arbeite und mir ungern etwas sagen lasse. Deshalb sind meine Arbeitsbedingungen, wie ich sie mir im Laufe der Jahre geschaffen habe, ideal für mich.

Der künstlerische Prozess in meinem Atelier ist ja nicht immer nur ein Höhenflug, es ergeben sich aber eben manchmal diese magischen Momente, wenn Reflexion und das Denken über die Zukunft ausgeschaltet ist und man nur im Jetzt arbeitet. Dafür lohnt sich der ganze Aufwand ungemein.

 

Denken Sie, dass Sie selbst darauf einen Einfluss haben, ob Ihre Tätigkeiten erfüllend sind?

Ich stelle mir meinen Tagesablauf selber zusammen, setze mein Arbeitspensum fest und lege immer wieder Lese- oder Sportpausen ein.

 

Was oder wer inspiriert Sie im Alltag?

Ich inspiriere mich selber am meisten, zumeist beim Joggen oder Wandern. Wenn der Kopf leer wird, kommen mir die Ideen, die ich weiterverfolgen will. Aber auch beim Studium, wenn sich ein Gedanke plötzlich verdichtet.

 

Was oder wer gibt Ihnen im Alltag Kraft und Energie?

Ein Tag in den Bergen oder wenn meine Enkel zu mir ins Atelier kommen. Da ist dann enorm viel Power da, der die Batterien füllt.

Auch ein relativistischer Gedanke, dass ich eben nur ein Teil eines grossen Ganzen bin, gibt mir Mut und Kraft, dass ich nicht alles zu verantworten habe.

 

Es gibt «magische Momente», in denen alles zu passen scheint. Momente, die erfüllen, inspirieren und Kraft geben. Momente, die bestätigen, dass sich der Einsatz lohnt und dass das, was man macht, sinnhaft und wertvoll ist. Haben Sie solche Momente in Bezug auf Ihre eigenen Tätigkeiten schon erlebt?

Diese Leerräume, die einen magischen Augenblick erst ermöglichen, erlebe ich manchmal – wenn auch selten genug, wenn in einem Arbeitsflow alles verfliegt und nur noch der Moment, das Werk und ich in einem Dialog sind. Dann gibt es keine Reflexion und keine Zukunft, sondern das jetzige Jetzt.

Im Berg, im Austausch mit dem Stein, dem Eis und den Gerätschaften, die dafür notwendig sind, mit den Bergkollegen, die gemeinsam im Seil sind, können solche Momente entstehen. Es ist dann egal, ob ein politisches Arschloch mit dir im Seil hängt, es zählt dann nur der Moment, das Projekt, die Zeitlosigkeit.

Dann gibt es auch flirrende Momente im Beisammensein mit Gedankenfreunden, wenn Debatte und Sein sich in eine Gemengelage ergehen, die nicht zu steuern ist. Wenn plötzlich Momente entstehen, die man gar nicht mehr sprechen kann.

An einer Ausstellung, wenn das Ausstellungsobjekt einen Schauer über den Nacken jagt, wenn das Gezeigte mehr wird als die blosse Betrachtung und Beschreibung, wenn dieses Unsagbare eintritt, wofür sich all die Mühen der Ebene trotzdem lohnen, was aber selten genug passiert.

Chennai National Museum Chola Dynasty, 2018

Tun Sie aktiv etwas dafür, damit sich solche magischen Momente einstellen können?

Eigentlich nicht. Ich lebe mein Leben und gönne mir Momente des Unerwarteten.

 

Gibt es Momente, in denen Sie an dem, was Sie machen, zweifeln?

Ich verwerfe fast jeden Tag eine Idee und zweifle oft an der Qualität eines bestimmten Projektes. Scheitern und die Erkenntnis, dass ein Projekt oder eine Unternehmung meinen Ansprüchen nicht genügt, begleiten mich fortwährend. Ich bin nie ganz zufrieden und schöpfe aus diesem Antrieb heraus immer wieder neuen Mut für Neues.

 

Können Sie schwierigen Momenten rückblickend etwas Positives abgewinnen?

Unbedingt! Oft reflektiere ich im Nachgang, dass ein schwieriger Moment oder eine unpassende Bemerkung von jemandem mich auch auf neue Wege gebracht hat. Kritik, Ablehnung, gar Ausgrenzung (was man als Künstlerin durchaus erlebt) haben mir zuletzt eigentlich immer eine konstruktive Wendung beschert. Beharrlich an einem Thema, einer These oder einer Darstellungsform dran zu bleiben haben sich für mich gelohnt.

«Sphinx», 2016

Gibt es etwas, was Sie rückblickend anders machen würden?

Vieles ist in meinem Leben genuin von einem ins andere geflossen, eine klare Karriereplanung hatte ich nie und den unbedingten Druck auf Erfolg ist mir fremd.

Als junge Frau war ich in einem oft männerdominierten Umfeld zu lange zu stumm. Dies würde ich heute anders machen.

 

Möchten Sie mit Ihren Tätigkeiten etwas zur Gesellschaft beitragen?

Auf jeden Fall! Künstler_innen sind Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse und gerade durch die intensive Auseinandersetzung mit relevanten Zeitthemen kann der Künstler Zeichen setzen, die anders als auf bloss gewinnorientierte Weise gelesen werden können und so zur Meinungsbildung beitragen.

Für mich ist Kunst immer politisch, weil sie von Menschen kreiert wird, die selber Teil dieser Gesellschaft sind. Einzuwirken, meinungsbildend zu agieren und subversive Zeichen zu setzten ist eine Strategie meiner künstlerischen Tätigkeit.

«Wasserbrüste», 2015

Ist Ihnen die Anerkennung von anderen Personen bzw. von der Öffentlichkeit wichtig?

Positive oder auch kritische Würdigung der Öffentlichkeit ist für mich wichtig, auch die Würdigung in Form von Ankäufen nobilitiert ein Werk, es ist in der Tat so, dass wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben und über das Regulativ Geld auch Anerkennung einheimsen.

 

Wie gut können Sie von dem, was Sie beruflich tun, leben?

In den 90er Jahren konnte ich von meinen künstlerischen Arbeiten ganz gut leben, damals waren die Börsengewinne gross und auch mittelständische Menschen haben schnelle Profite gemacht und dies in Luxusgüter investiert. Diese Zeiten sind definitiv vorbei.

Heute lebe ich ganz passabel aus einem Einnahmenkonglomerat von verschiedenen kleinen Anstellungen, Projekten und unerwarteten Ankäufen. Was ich brauche für meine künstlerische Arbeit und die Bücher, die ich will, kann ich mir leisten.

 

Gibt es etwas, das Sie derzeit besonders beschäftigt?

Nein, ich beschäftige mich permanent mit Fragen und Problemstellungen zu Gesellschaft und Ästhetik. Sobald gewisse Klärungen entstanden sind, ergeben sich wieder neue Fragestellungen. Dies scheint ein steter Fluss zu sein, der durch das Leben mäandert.

 

Gibt es etwas, womit Sie sich in Zukunft gerne (verstärkt) beschäftigen würden?

Ich werde mich damit beschäftigen müssen, wie ein selbstbestimmtes Leben geführt werden kann, wenn Kräfte schwinden oder der Geist lahmt. Allerdings hat Hegel mit seinem Ausspruch: «Der Geist ist ein Knochen» selbst noch vieles im Vagen gelassen. Zitat: «Wenn sonst vom Geiste gesagt wird, er ist, hat ein Sein, ist ein Ding, eine einzelne Wirklichkeit, so wird damit nicht etwas gemeint, das man sehen oder in die Hand nehmen, stossen usf. kann, aber gesagt wird ein solches; und was in Wahrheit gesagt wird, drückt sich hiermit so aus, dass das Sein des Geistes ein Knochen ist.» Jetzt ist alles klar und doch noch völlig nebulös. A lot to do!

«Der Geist ist ein Knochen», Ausstellungsansicht Art Dock, 2020

Wofür sind Sie im Leben besonders dankbar?

Dass ich umgeben von meiner Familie und guten Freunden ein gutes Leben führen kann.

Interview
Laura Hilti, Oktober 2020


Links

www.lilianhasler.li


Credits

Portraitfoto: Bettina Stahl-Frick
Im Aussenatelier/ Fixer: Silvia Luckner
Ich wasche dir die Füsse: Sven Beham

Wasserbrüste: Maja von Meiss
Alle anderen Fotos: Lilian Hasler

Dieses Interview ist Teil des Projekts «Magic Moments» des Kunstvereins Schichtwechsel, in dessen Rahmen Menschen zu ihrem Werdegang, ihren Tätigkeiten sowie magischen und schwierigen Momenten befragt werden.

Das Projekt wird gefördert durch die Kulturstiftung Liechtenstein und die Stiftung Fürstl. Kommerzienrat Guido Feger.

 

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