Von dem, was in unserer Gewalt steht, und was nicht

In unserer Gewalt steht unser Denken, unser Tun, unser Begehren, unsere Abneigung, kurz: alles, was von uns selber kommt. Nicht in unserer Gewalt steht unser Leib, unsere Habe, unser Ansehen, unsere äussere Stellung – mit einem Wort, alles, was nicht von uns selber kommt.

Was in unserer Gewalt steht, ist von Natur frei, es kann nicht gehindert und nicht gehemmt werden. Was nicht in unserer Gewalt steht, ist anfällig, abhängig, steht in fremder Hand und kann gehindert werden.

Sei dir also bewusst: Hältst du für frei, was seiner Natur nach unfrei ist, und für dein eigen, was fremd ist, so wirst du viele Schwierigkeiten haben, Aufregung und Trauer, und wirst mit Gott und allen Menschen hadern. Hältst du aber nur das Deine für dein eigen und Fremdes für das, was es ist: fremd, so wird nie jemand dich zwingen, nie jemand dich hindern, du wirst nie jemand Vorwürfe machen, nie jemand schelten, nie etwas wider Willen tun. Niemand wird dir schaden, du wirst keinen Feind haben; denn nichts Schädliches trifft dich. […]

Gewöhne dich nun, bei allem, was bedrohlich wirkt, zu sagen: du bist nicht das, was du scheinst, sondern nur eine Vorstellung. Sodann prüfe es an den Regeln, […] indem du fragst: gehört es zu dem, was in meiner Gewalt steht, oder nicht? Und gehört es zu dem, was nicht in deiner Gewalt steht, so sage zu dir selber: es geht mich nichts an!

 

Was zu erstreben ist und was nicht

[…] Willst du aber einer Krankheit, dem Tode, der Armut ausweichen, so wirst du unglücklich sein. Hüte dich also vor jeder Abneigung gegen alles, was nicht in deiner Gewalt steht, und lass ihr nur ihren Willen bei dem, was naturwidrig ist und in deiner Gewalt steht.

Die Begierde aber gibt vorläufig ganz auf. Denn begehrst du etwas, was nicht in deiner Gewalt steht, so wirst du bestimmt unglücklich werden. Von dem aber, was in deiner Macht steht und was du begehren solltest, weisst du noch nichts. Beschränke dich auf Neigung und Abneigung, aber lass auch diese nicht übermächtig werden.

 

Verwechsle nicht die Dinge mit den Vorstellungen!

Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen. So ist z. B. der Tod nichts Furchtbares […], sondern die Vorstellung, er sei etwas Furchtbares, das ist das Furchtbare.

Wenn wir also bedrängt, unruhig oder betrübt sind, wollen wir die Ursache in etwas anderem suchen, sondern in uns, das heisst in unsern Vorstellungen. Der Ungebildete macht andern Vorwürfe, wenn es ihm übel ergeht. Der philosophische Anfänger macht sich selber Vorwürfe. Der wahrhaft Gebildete tut weder das eine noch das andere.

 

Worauf wir stolz sein dürfen

Sei nicht auf fremde Vorzüge stolz! Wenn ein Pferd mit Stolz sagen würde: ich bin schön, so könnte man sich das gefallen lassen. Wenn du aber mit Stolz sagst: ich habe ein schönes Pferd, siehst du, so bist du nur auf ein gutes Pferd stolz. Was ist nun dein eigen? Deine Vorstellungen. Wenn du also bei dem Gebrauch deiner Vorstellungen dich naturgemäss verhältst, darfst du soweit stolz sein. Denn dann wirst du stolz sein auf einen Vorzug, der dein eigen ist.

 

Einstellung zum Leben

Verlange nicht, dass alles so geschieht, wie du es willst, sondern solle, dass alles so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Frieden leben.

 

Was ein Unglück ist

Die Krankheit ist ein Unglück für den Körper, für den Willen aber nicht, wenn er nicht selber es will. Lähmung ist ein Unglück für den Schenkel, für den Willen aber nicht. Das sage dir bei allem, was dich trifft; dann wirst du finden, dass es für irgend etwas ein Unglück sein kann, nicht aber für dich.

 

Auszüge aus «Epiktet: Handbüchlein der Moral und Unterredungen», Kröner Verlag, S. 21-22

 


Credits
Bild: Amazon

Beitrag erstellt von
Laura Hilti, Kunstverein Schichtwechsel