«[…] Was viel spannender ist, sind die physischen Belastungen und emotionalen Sorgen, die ein jeder von uns hat. Und da würde ich sagen, gibt es eine Spaltung in der Gesellschaft. Ich habe das Gefühl, es gibt es jene, die irgendwie dachten, wir lebten in einer halbwegs gut funktionierenden normalen Welt und die ist jetzt schwer durcheinander, die ist vielleicht sogar beschädigt und die sich Sorgen machen, wie die Zukunft ist. Und dann gibt’s jene, die der Ansicht waren, wir lebten eh schon in schlimmen Zeiten und wir brauchen einen Weckruf damit wir tatsächlich jene Transformation, die nötig ist, sei es aus ökologischen oder sozialen Gründen, damit wir die jetzt anpacken. Solche Leute – und dazu gehöre ich – sehen durchaus die Krise als eine Chance, mal in sich zu gehen und eine tiefgreifende Transformation der Gesellschaft und der Wirtschaft zukünftig vorzunehmen.»

«Krisen sind ja tatsächlich Katalysatoren/ Beschleunigungsräume für utopisches Denken. Also wenn man sich das historisch anschaut, zum Beispiel die Überwindung des feudalen Mittelalters hat sehr viel […] mit der Pest zu tun. Es gibt bestimmte Hungersnöte, die dann zu Revolutionen geführt haben. Kriege haben natürlich oft einen Modernisierungsschub gebracht, überkommende Formen wie zum Bespiel die Monarchie/ die Aristokratie weggewischt. Es ist nicht so, dass man behaupten kann, dass Krisen nur zu Leid und Tod und Schrecken führen, sondern sie haben tatsächlich eine Eigenschaft, die selbstverständlich brutal ist, aber manchmal historisch notwendig, dass sie ein bisschen den Stall des eigentlich Überkommenden, des schon lethargisch Alten wegfegen. Und insofern ist es durchaus eine gute Zeit für utopisches Denken, wobei mir bewusst ist, dass nicht alle Menschen das wahrnehmen. Es haben sehr sehr viele Menschen ganz starke Sorgen, die natürlich eher ins Apokalyptische oder Dystopische treiben.»

«Ich glaube, jeder, der ein bisschen die Ereignisse der letzten Jahrzehnte verfolgt hat, weiss, dass das, was an ökologischen Katastrophen unweigerlich auf uns zukommt, wenn wir so weitermachen, mit dieser unglaublichen Verschwendungs- und Verschleuderungswirtschaft, die ja nicht nur die Natur ausbeutet, sondern auch den Menschen. Wir wissen ja von unzähligen Studien, dass die soziale Ungerechtigkeit kontinuierlich zunimmt. Diese berühmte Schere zwischen Arm und Reich, die Konzentration von Vermögen bei Grosskonzernen, Monopolisten oder natürlich auch im privaten Bereich. Das wird ja zu Krisen führen, im Vergleich zu denen das jetzige dann eher ein Vorspiel sein wird. Insofern ist doch das entscheidende Moment, dass, wenn wir sehen, dass die Krise da ist, wir eh nur mit radikalen Massnahmen darauf reagieren können. […] Wenn wir als Gesellschaft warten, dass eine bestimmte Krise uns übermannt/überrollt, dann können wir nur mit repressiven ordnungspolitischen Instrumenten reagieren, weil es auf einmal dann keine anderen Optionen mehr gibt. Und das ist doch eigentlich eine Erkenntnis der obersten Ratio, der gesellschaftlichen Raison, dass wir sagen: Lasst uns jetzt die ganz grossen Krisen – die ökologische Verwüstung der Welt –, die wir ja eindeutig auf uns zurollen lassen, dass wir die frühzeitig vermeiden, anstatt dass wir dem dann begegnen, wenn sie schon da sind.»

«Wenn wir Globalität ernstnehmen, das heisst wir sind in einem Organismus der gegenseitigen Abhängigkeiten, dann müssen wir sagen, die Lage war eh schon absurd katastrophal. […] Da ist die Situation doch so, ob das jetzt Textilarbeiterinnen sind in Carachi, Slumbewohner in Nairobi oder Flüchtlinge in Mexiko, dass deren Lage ja eh schon knapp vor dem Untergang war. Und für die ist es jetzt tatsächlich eine Beschleunigung/ eine Verschärfung des Problems, aber es ist natürlich auch eine Aufforderung an uns alle, dass wir die Globalisierung als moralische Aufgabe der Globalität ernstnehmen. Das heisst, dass wir tatsächlich überlegen: Wie kann es zum Beispiel eine Sozial- und Gesundheitsversorgung geben, die global gedacht ist und umgesetzt wird? Denn die Pandemie zeigt doch tatsächlich jetzt für jeden verständlich, dass wir in einem Boot sitzen, ergo können wir es uns bei einer Pandemie ja gar nicht leisten, dass vier Fünftel der Welt oder drei Fünftel der Welt ohne ernstzunehmende Gesundheitsversorgung dahinsiechen, denn das wird natürlich uns wiederum betreffen, weil es nicht mehr möglich sein wird, sich völlig voneinander abzugrenzen. Insofern, ich glaube, dass diese Pandemie auch diesem Wiederaufkommen des nationalen Denkens einen schweren Schlag versetzen wird, weil die globale Interdependenz nochmals klargemacht wird.»

«Ich kenne Menschen, die hundert Länder besucht haben und extrem borniert engstirnig sind und es gibt Leute, die kaum reisen und die einen ganz ganz weiten Horizont haben. Insofern ist, glaube ich, die Tatsache, dass wir jetzt nicht so viel reisen können, eher als Entschleunigung wiederum eine Chance. Nämlich dass wir ein bisschen darüber nachdenken, was wirklich relevant ist. Ich find das ja für mich auch jetzt sehr notwendig, daran erinnert zu werden, was die Kernelemente/ das Essenzielle in meinem Leben ist und was mir am meisten abgeht. Und zu sehen, dass mir wirklich vieles von dieser Gesellschaft überhaupt nicht abgeht, während das in den Arm nehmen eines Freundes, das Besuchen der Mutter, solche Aspekte viel viel zentraler sind. Das heisst, den Menschen seiner Wertigkeit zu erheben. Und die Werte der Produktion und des Konsums in ihrer relativen Bedeutungslosigkeit nach unten zu schieben. Das ist doch wirklich eine Chance in diesen Zeiten.»

 

Die Krise als Chance sieht Ilija Trojanow, einer der vielseitigsten und engagiertesten Autoren deutscher Sprache. «Weltensammler» wird Trojanow seit seinem gleichnamigen Bestseller über den britischen Abenteurer Richard Burton immer wieder genannt, ein leidenschaftlich Reisender, ein erklärter Kosmopolit. Er ist durch afrikanische Wüsten gewandert und über antarktische Gletscher, er hat den Ganges vom Ursprung bis zur Mündung befahren, ist nach Mekka gepilgert und hat aus all dem Literatur gemacht. Derzeit sitzt er in Stuttgart fest.

 


Zitate und Beschreibung: Ö1 Interview «Im Gespräch: Der Schriftsteller Ilija Trojanow» mit Kristina Pfoser, Kulturjournal, 29.4.2020

Foto: Süddeutsche Zeitung

Beitrag erstellt von: Laura Hilti, Kunstverein Schichtwechsel