Ich will gar nicht sagen, dass Leute, die sagen: «Ich hab ein Burnout.» nicht richtig krank sind. […] Das Problem dieses Begriffs ist, er ist so diffus. Und nicht nur ich kämpfe gegen diesen Begriff. Auch die zuständigen Fachgesellschaften kämpfen dagegen. Das ist nur etwas schwierig, weil es mit enormen Marketingeffekten verbunden ist. Es gibt Kliniken in Deutschland, die werben inzwischen damit, dass sie eine Burnout-Klinik sind und keine psychiatrischen Patienten haben. Das muss man sich mal vorstellen. Also keine wirklich Kranken.

Da kann jemand eine richtige Depression haben und das fand ich vor einigen Jahren auch noch ganz gut. Da war der Burnout-Begriff dann eine Möglichkeit, sich zu outen. Das hat man eher gewagt zu sagen als eine Depression. Aber inzwischen werden auch schon alle möglichen Befindlichkeitsstörungen psychiatrisiert. Das heisst, unter Burnout laufen dann Leute, die mal ne Schlafstörung haben […].

Das dritte grosse Problem ist, dass unter Burnout existenzielle Krisen laufen. Also wenn eine Frau zum Beispiel plötzlich von ihrem Mann verlassen worden ist, dann ist die tief erschüttert. Das ist manchmal schlimmer als eine Depression. Aber das ist keine Krankheit. Das ist eine ganz gesunde Reaktion auf eine schreckliche Situation. Und da braucht die nicht irgendeine junge Therapeutin, die gar keine Lebenserfahrung hat, sondern eine gute Freundin, die vielleicht selbst sowas mal bewältigt hat. Oder wenn Leute sich im Beruf überfordern, einen schrecklichen Chef haben. Das kann furchtbar sein, einen schrecklichen Chef zu haben. Von morgens bis Abend diesen üblen Menschen da immer zu erleben. Aber das ist auch keine Krankheit, wenn man darauf sensibel reagiert und da hilft es auch nicht, wenn man sozusagen die ganze Firma überdacht und da ne Burnout-Klinik draus macht. Da muss man den Chef wechseln. Von daher ist es mir wichtig beim Begriff Burnout präzise zu sein. Und das Problem ist, viele Leute sitzen bei bei Psychotherapeuten hier in Deutschland, die gar nicht krank sind. Die denken, sie haben ein Burnout und die richtig Kranken kriegen keine Therapieplätze mehr. Und deswegen bin ich so engagiert in der Frage.

Wir haben hier das grosse Problem, dass ein Psychiater im Jahr im Grunde 1000 Patienten behandeln muss und ein Psychotherapeut 50. Und damit kommt er auch aus finanziell. Und ob ein Patient Psychotherapie bekommt, entscheidet der Psychotherapeut.

Man ist nicht weniger robust heutzutage als früher. Da muss man immer ein bisschen aufpassen. Ich bin mal angerufen worden von einem Journalisten – der wollte ein Interview über Burnout machen. Er sagte, die Leute seinen ja rund um die Uhr erreichbar durch Email und so. Das sei ja ein völlig neuer Stress. Da hab ich gesagt: «Hören Sie mal, im Dreissigjährigen Krieg waren die Leute rund um die Uhr durch die Schweden erreichbar. Das war viel unangenehmer. Im 19. Jahrhundert hatten wir 12 Stunden Arbeit, zum Teil ohne Urlaub. Im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege. Wir müssen auch mal ein bisschen auf dem Teppich bleiben.»

Wir haben andere Anforderungen heute. Und wie man das bessern kann – das müssen wir ja vielleicht auch mal sagen – ist, dass man die Arbeitsbedingungen bessert. Dass Chefs lernen, dass es für Mitarbeiter nützlich ist, dass sie einbezogen sind in eine Entscheidung. Dass sie nicht einfach von oben herab eine Entscheidung bekommen, die sie gar nicht beeinflussen können. Dass sie anerkannt werden vom Chef. Dass sie auch die positiven Effekte erleben. Eine wertschätzende Atmosphäre am Arbeitsplatz führt dazu, dass  die Firma auch besser ist. Ein kluger Arbeitgeber wird versuchen, wertschätzend und in einer nützlichen Weise mit den Mitarbeitern umzugehen. Aber es gibt natürlich immer wieder Chefs, das sind so Leute, die wahnsinnig stolz sind, dass sie mal Macht ausüben können und Macht ausüben heisst ja eigentlich, dass man Unsinn macht. Das ist die Macht an sich: Unsinn machen. Weil, um was Sinnvolles zu machen, da brauchen Sie gar keine Macht, da reichen Argumente.

Sich bewusst zu machen, jeder Moment, jeder Tag ist unwiederholbar. Und ich muss versuchen, in diesem unwiederholbaren Moment diesen Moment zu erleben. Ich muss existenzielle Liebe erleben mit anderen Menschen. Ich muss mich auch um den Sinn des Lebens kümmern und weiss, dass das Leben begrenzt ist.

Eine wunderschöne Melodie im Autoradio zu hören und nicht gleich zu fragen: Wo krieg ich das auf CD? Wie kann ich das wiederholen? Sie können das nicht wiederholen.

Wenn ich jedem von Ihnen sagen könnte, wann er stirbt, das genaue Datum seines Todes. Wenn ich jedem der Hörer jetzt sagen könnte: «In zwei Wochen sterben Sie.» Dann bin ich sicher, dass Sie in diesem zwei Wochen nicht irgendwelche wissenschaftlichen Studien lesen, auch nicht zum Psychotherapeuten rennen […]. Sondern mit einem guten Freund nochmals reden, mit Ihren Kindern reden, nochmals an Orte gehen, wo Sie etwas Tolles erlebt haben, oder Musik hören oder sich Kunst anschauen. Je nachdem, jeder wird das anders machen. Und ich plädiere […] ein bisschen dafür, dass man das vielleicht nicht erst in der Sterbephase tut, sondern vielleicht probeweise schon mal vorher.

 

Auszüge aus der Ö1 Radiosendung “Symptome und das wahre Leben“. Gast: Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz. Moderation: Andrea Hauer.

Das Burnout-Syndrom boomt. Viele Menschen fühlen sich “ausgebrannt”, Kliniken bieten spezielle “Kuren” an. Manfred Lütz, Leiter des Alexianer-Krankenhauses in Köln, wehrt sich in seinen Büchern und Vorträgen gegen die Pathologisierung des Alltags.

Das Burnout-Syndrom, “ein Mischmasch von Beeinträchtigungen, die mehr oder weniger jeder einmal hat”, werde oft mit existenziellen Krisen verwechselt, da könnten Experten nicht wirklich helfen.

Der Psychiater, Theologe und Schriftsteller ist Gast bei Andrea Hauer.

 

Quelle Texte und Bild: Ö1 Bild: (c) dpa/Karl-Josef Hildenbrand