Auszug aus dem Interview «Qiu Zhijie / Power Station of Art oder das Prinzip namens Reaktivierung. Gedanken zur Shanghai Biennale» von Heinz-Norbert Jocks, Kunstforum International Bd. 219, Januar – Februar 2013, S. 43*

 

STADTPAVILLONS VS. NATIONALE PAVILLONS

Die Shanghai Biennale setzt einen Schwerpunkt auf das Thema der Stadt. […] Diese Kunst-Biennale soll anders sein als die Olympischen Spiele oder die Weltausstellung. Deshalb führten wir die Stadtpavillons ein. Und deshalb waren wir darum bemüht, die Shanghai Biennale mehr spielerisch zu organisieren. Und eben nicht in der Manier eines großen Kurators mit einem Co-Kuratoren-Team, der alles leisten kann. Du kannst doch Leute einladen, damit sie selbst etwas machen. Du musst nicht alles kontrollieren oder überprüfen. Im Grunde ist das, was ich intendiere, wie ein “Hot Pot”. Du stellst den Topf zur Verfügung. Mumbai sorgt für Rindfleisch, Hongkong für Tofu, und jemand anders kümmert sich um den Fisch. Wenn alles beisammen ist, laden wir zu einem großen Essen ein, zu dem jeder etwas beigesteuert hat. Das heißt, du musst die Party nicht alleine vorbereiten. Alles in allem denke ich, die Leute in Shanghai und auch die Regierung werden sich mehr öffnen und offener sein, sobald sie selbst etwas machen. Dann werden sie nichts mehr dagegen einzuwenden haben und es erlauben, weil sie sehen, dass nichts passiert ist. So wird es weniger Kontrolle geben, und alles kann spielerischer angegangen werden. Im Grunde teile ich die internationale Idee vom sogenannten kulturellen Austausch oder von Kommunikation. Sobald eine Idee nationalisiert wird oder die Betonung zu sehr auf dem Nationalen liegt, besteht die Gefahr des Ideologischen. In meinen Augen ist der Künstler keineswegs der Repräsentant seiner Kultur oder Nation, seines Staates oder Landes. Er schafft ein auf sein tägliches Leben bezogenes Kunstwerk. Dabei ist die Stadt als Raum für das, was er hervorbringt, wichtiger als das Land. So scheint es mir. Es ist eine neue Situation. Es kann durchaus sein, dass ein New Yorker sich ziemlich weit von einem Amerikaner entfernt hat. Über einen Bewohner aus Hongkong wird gesagt, er habe eine chinesische Identität. Aber zunächst einmal kommt er aus Hongkong. Wird ein Künstler als Vertreter seiner Nation betrachtet, so gerät der ganze Kontext sehr ideologisch. Das ist für keine Form von Kommunikation gut, denn es führt dazu, dass ein japanischer und ein chinesischer Künstler darüber debattieren, wem diese Insel gehört. [Lacht] Wenn die Stadt hingegen der Kontext sowie das Thema eines Gesprächs zwischen einem Künstler aus Shanghai und Osaka ist, so unterhalten sie sich über die Stadt und deren Verkehr, darüber, wie schwer es ist, ein Studio zu finden, oder darüber, wie stark sich dort die Mieten oder das Leben verteuert haben. Dass sie sich über das ganz alltägliche Leben unterhalten, ist für die Kommunikation erheblich besser. Statt über Ideologien reden sie über ihre Schwierigkeiten und Probleme.

 

DIE BIENNALE ALS EIN ORT DES AUSTAUSCHS UND DER GEMEINSCHAFTEN

Alle Besucher der Expo sind Touristen, und vielleicht findest du bei deinem Besuch Nepals Kultur so aufregend, dass du Lust auf dieses Land bekommst und es als Tourist bereisen möchtest. Das heißt, du respektierst diese Kultur, aber du bist nicht Mitglied dieser Gemeinschaft. Mir liegt daran, dass die Biennale einen anderen Zweck erfüllt. Für mich ist sie ein Ort, wo Kulturen nicht ihre Macht, sondern ihre Schönheit, ihre Probleme und ihre Art und Weise zeigen, wie sie diese mit ihrer Imagination lösen. Wenn die Leute sich darüber austauschen, so bilden sie dadurch eine Art Gemeinschaft. So verstehe ich die Idee der Biennale.

 

DU MUSST EINEN BEITRAG LEISTEN

Als dieser Künstler mich daraufhin aber aufforderte, etwas gegen den Krieg zu tun, fragte ich mich, warum ich dazu nicht in der Lage sei. Das war das erste Mal, da ich fühlte, dass wir die gleichen Probleme haben. […] Ich dachte darüber nach und daran, einen Beitrag zu leisten, aber weder über Repräsentation noch über das Thema des Krieges. Es geht nicht darum, dass du dein Land vertrittst. Du musst einen Beitrag leisten. Dieses Denken führte zu der Idee der Stadtpavillons.

 

GEMEINSCHAFEN IN SCHWIERIGEN ZEITEN

Wenn wir im täglichen Leben die Wichtigkeit des Dialogs hervorheben, so ist dies mehr eine Metapher. Wenn hingegen bei einem Erdbeben Menschen verschüttet werden und du rufst nach ihnen und sie antworten dir, und du kannst sie aus den Trümmern befreien, so ist die Kommunikation weder etwas Schönes noch eine kulturelle Metapher. Stattdessen rettet sie Menschenleben. Deshalb finde ich die schwierige Zeit oder das Desaster so wichtig in Bezug auf die Themen Kommunikation und Gemeinschaft. Bei Katastrophen, wenn es darum geht, den anderen zu helfen, wissen die Betroffenen um die Notwendigkeit einer Gemeinschaft. Aber im täglichen Leben wird oft vergessen, warum sie zusammen bleiben. […] Erst in extremen Situationen wird uns bewusst, dass dieses Zusammenkommen auf einer Entscheidung beruht.

 

DIE KOMMUNIKATION AUFRECHTERHALTEN

Gerade weil ich das Thema der Katastrophe so wichtig finde und weil Sendai in einer Erdbebenzone liegt, wählte ich diese Stadt mit ihrem Medienzentrum. Es wird nicht nur als Museum und Bibliothek genutzt. Man arbeitet dort auch an einem Projekt, in dem die vom Erdbeben Betroffenen ihre Geschichten erzählen. Sie kommen, um vor der Kamera zu sprechen. Das finde ich großartig, und deshalb habe ich Sendai als eine von dreißig Städten nach Shanghai eingeladen, neben Metropolen wie Istanbul, Mumbai, Berlin und kleinen Städten wie Bandung in Indonesien. Um Sendai an der Biennale teilnehmen zu lassen, musste ich wegen des aktuellen Insel-Konflikts zwischen Japan und China der Propaganda-Abteilung sämtliche Werke der japanischen Künstler erklären. Ich musste sichergehen, dass ihre Werke okay sind. Hinzu kam, dass die Regierung auch Angst davor hatte, dass den Japanern hier etwas passieren könne. […] Per Chat versuchten wir sämtliche Probleme auszuräumen. Dabei verlangte die japanische Seite Sicherheitskräfte für ihre Künstler. Damit es zu keiner Unterbrechung der Kommunikation zwischen Japan und China kommt, willigte ich ein. Denn gerade in so heiklen Situationen können wir einen Abbruch der Kommunikation nicht zulassen.

 

RESSOURCEN IN KATASTROPHEN-SITUATIONEN

Ich wählte auch Städte aufgrund ihrer Beziehung zu Themen wie Kommunikation oder Gemeinschaft aus. Wie finden die Menschen ihre Ressourcen inmitten einer Katastrophe?Das ist eine Frage, der ich nachgehe. Es gelingt ihnen dank ihrer Beziehungen. So sind Sendai und Bogotá dabei. Beide Städte blicken bis heute zurück auf eine schreckliche Geschichte mit Kriegen und anderen Problemen. Es gehört für mich zum Kulturaustausch dazu, auf solche Dinge hinzuweisen. Deshalb wählte ich Brooklyn anstelle von New York, und ebenfalls Detroit als ehemaliges, fast zerstörtes Zentrum der Autokultur, welches man derzeit zu reaktivieren versucht.

 

BEZIEHUNGEN ALS RESSOURCE

Ich nahm eine Unterteilung in vier verschiedene Themen vor. Wenn du die vier Wörter “Resources” “Revisit”, “Reform” und “Republic” miteinander verbindest, so wird daraus der Satz: “Reform and revisit the public resources” (Reformiere und überdenke die öffentlichen Ressourcen). Darüber wollte ich sprechen. Es geht um Bildung, Kommunikation und darum, wie Ideen ausgetauscht und wie Menschen zu einer Gemeinschaft werden. Das ist die eigentliche Ressource des Menschen.

Früher griff man auf natürliche Ressourcen zurück. […] In der modernen Zeit wurden Kohle und Öl gefördert. Und als man keine mehr fand, suchte man weiter weg danach. […] Zuerst suchen sie draußen in der Welt nach Ressourcen, und wenn dort nichts mehr zu finden ist, erweitern sie den Suchradius. Sogar Kriege werden zur Sicherung von Ressourcen geführt. Nicht nur im Osten, auch anderswo ist auch noch von der inneren Energie die Rede. Für mich gibt es noch einen anderen, einen dritten Weg. In dem Fall befinden sich die Ressourcen weder drinnen noch draußen, sondern dazwischen. Also zwischen den Beziehungen. Ein Beispiel: Wenn es oben auf der Bergspitze sehr kalt ist, wärmen wir unsere Körper gegenseitig. Wir suchen die körperliche Nähe der anderen. So erzeugen wir Energie. Das Denken über diese Beziehungen, deren Erneuerung und Reformierung ist wichtiger als die materiellen und physischen Ressourcen. Es geht nicht darum, immer weiter wegzugehen, um neue Energiequellen wie Sonne, Wind oder Wellen zu entdecken. Solange die Menschen nicht damit anfangen, ihre Beziehungen zu ändern, werden die Probleme nie verschwinden.

Es geht nicht nur um Ressourcen, sondern auch um “Republic”, im Sinne von etwas zur gemeinsamen neuen Angelegenheit zu machen. Denn dies ist die wahre Ressource. Wir müssen auch diese reformieren und sämtliche, von uns vergessenen Archive wieder besuchen. Wir müssen zu den verlorenen Geschichten zurückkehren, die abgelegten Gegenstände wieder an uns nehmen und die Beziehungen zu ihnen wiederherstellen. […]

Bei dem Teil, der sich der Reform widmet, geht es sowohl darum, wie Künstler ihre Arbeit verrichten, als auch um ihr Leben als Prozess und um die Veränderung der Situation. Ich versuche, die langfristige Arbeit der Künstler zu zeigen. […] Mein Versuch zielt auf die Wahrnehmung der ganzen Landkarte eines Künstlers und damit auf die Entwicklung seines Werks. Darüber wollte ich reden. Das ist das Zentrum. Wie kommunizieren Menschen? Wie kommunizieren Künstler mit den anderen, mit- und untereinander? Wie werden sie zu einer Organisation, um sich der anderen als ihre Ressource zu bedienen?

 

ES GEHT UM GESELLSCHAFTLICHE ERNEUERUNG

Meines Erachtens ging es bis heute bei der Shanghai Biennale keineswegs um Kunst, sondern um die gesellschaftliche Erneuerung. […] wenn ich mir andere Biennalen anschaue, so habe ich das Gefühl, deren Geschichte sei eigentlich vorbei. Denn sie degradieren immer mehr zu einem Festival für das tägliche Leben. Sie sind nicht länger mehr ein politischer Bestandteil der gesellschaftlichen Erneuerung. In China sind wir glücklich und unglücklich zugleich. Obwohl es schwierig ist, sind wir dennoch glücklich, weil wir immer noch Teil der politischen Entwicklung und der gesellschaftlichen Erneuerung sind. So gesehen hat die Biennale hier eine Wichtigkeit, da sie in China diese Rolle in einer neuen Situation und unter neuen Bedingungen spielt, es ist immer noch politisch. Manchmal denke ich, es ist unser Glück, dass die Biennale für die Menschen hier noch kein Festival ist, das allen egal ist. In meiner Arbeit als Kurator geht es nicht immer um Kunst.

 

Qiu Zhijie, 1969 geboren, Chefkurator der Shanghai Biennale, ist in erster Linie Künstler und als solcher schwer einzuordnen. In eine Gelehrtenfamilie hineingeboren, erlernte er als Kind die Kalligraphie unter der Anleitung seines Großvaters. Seine Jugend fiel in die Zeit, da China sich gegenüber dem Westen geöffnet hatte. Er profitierte davon, vertiefte sich in die Schriften von Nietzsche und Jean-Paul Sartre. Aber auch der chinesische Querdenker Lu Xun war für ihn von großer Wichtigkeit. 1988 schrieb sich Qiu an der Zhejiang Academy of Fine Arts, Abteilung für Druckkunst ein. Seine Studien schloss er 1992 ab. Zuvor hatte er die Zusage für ein Stipendium im Ausland erhalten. Wegen der Reisebeschränkungen nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens musste er jedoch seine Pläne ad acta legen. Gleichzeitig begann seine Zusammenarbeit mit den Künstlern Wu Shanzhuan und Zhang Peili. Sie engagierten sich gegen das Establishment und für das Persönliche in der Kunstproduktion.

Qiu Zhijie ist Kalligraph, Maler, Computer- und Videokünstler, aber auch Steinschnitzer, Professor und Kurator. Indem er die traditionelle chinesische Kunst in einen konzeptionellen Kontext rückt und überholte Traditionen hinterfragt, wurde er zu einem der provokantesten Künstler in der Revolte gegen nicht mehr haltbare Konventionen. 

 

* Die Titel sowie die Hervorhebungen wurden von der schichtwechsel-Redaktion hinzugefügt.

 

Quelle Interview und Bild Kunstforum International Bd. 219, Januar – Februar 2013, S. 43