Berlin, 4. November 2010 Marcin Śliwa im Gespräch mit Paweł Althamer, Igor Stokfiszewski und Artur Żmijewski Aus dem Polnischen von Heinz Rosenau

«Ich bin weder Künstler noch Kurator noch Philosoph. Ich bin auch kein Kulturtheoretiker. Ich bin Praktiker. Ich beschäftige mich mit Bildungsprojekten, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Region Masowien durchgeführt werden. Ich interessiere mich für offene Formen und offene Institutionen. Ich interessiere mich für Kultur als Instrument einer konkreten Veränderung.»

«Warum realisieren wir eigentlich ein Kulturprojekt? Bei siebzig bis achtzig Prozent der Kultur in der Region Masowien handelt es sich um Fassadenkultur, deren Ziel lediglich darin besteht, sich selbst zu reproduzieren. Also fragen wir die Teilnehmer erst einmal, worum es ihnen geht, was sie erreichen wollen. Sie nennen dann Dinge wie Authentizität, offenheit für andere Menschen und Herstellung von Gemeinschaft. Aber anschliessend reichen sie Projekte ein, die nichts mit diesen Zielen zu tun haben. Also bringen wir ihnen auf unseren Workshops bei, Projekte zu finden, mit denen sie diese Ziele tatsächlich erreichen können.»

«Wir sagen, dass es toll wäre, wenn Kultur tatsächlich einen gesellschaftlichen Fortschritt in Gang setzen könnte. Wenn die Teilnehmer durch ihr Handeln, durch ihre Intervention die Qualität menschlicher Beziehungen verbessern könnten. Wenn sie sie Menschen dazu brächten, einen genauen und bewussten Blick auf sich selbst zu werfen und die Distanz zu ihren Mitmenschen ein Stück weit abzubauen. Wichtig ist auch, dass durch die Kultur eine lokale Identität geschaffen wird, dass sie eine Antwort auf ganz fundamentale Fragen gibt: Wer sind wir, wer bin ich?»

«Janusz Byszewski hat Kulturhäuser als gesellschaftliche Skulpturen definiert, also als organische Gebilde, die auf den Bedürfnissen der lokalen Gemeinschaften basieren. […] [Man] akzeptiert, fördert und produziert […] dort eine authentische Kultur, die aus echten, nicht künstlich geschaffenen Bedürfnissen erwächst. Mir ist es lieber, wenn Menschen Fragen stellen und einander zuhören, als wenn sie in ihren Sonntagsanzügen dasitzen und sich ein Chopin-Konzert anhören.»

«Wir bitten die Teinehmer zunächst einmal, den aktuellen Status quo zu definieren, und anschliessend zu erzählen, wie sie sich eine bessere Zukunft vorstellen. Wir versuchen dabei, ihre und unsere Ziele messbar und konkret zu halten. Wenn wir beispielsweise ein Kulturprojekt für eine Kleinstadt wie Sochaczew entwickeln, dann könnte das Ziel darin bestehen, dass hinterher drei zufällig auf der Strasse angesprochene Leute in der Lage sind, drei tolle Dinge, die es in Sochaczew gibt, aufzuzählen. Dass sie nicht einfach sagen: ‹Ach was! Tolle Dinge gibt es in Łódź oder in Warschau, aber doch nicht hier.› Wenn sie das schaffen, dann ist das ein messbarer Erfolg eines Kulturprojekts.»

«Ausserdem sagen wir: Wir machen Kultur nicht ‹für die Menschen›, sondern ‹mit den Menschen›. In Polen geistert immer noch diese positivistische, zum Teil aus dem Sozialismus stammende Vorstellung, der Künstler habe das Licht der Aufklärung zu den Menschen zu tragen. Wir hingegen wollen etwas gemeinsam mit den Menschen machen, und nicht für sie.»

«[…] in Masowien gibt es eien Stadt namens Pionki. Dort wurden früher Schallplatten für verschiedene Plattenfirmen gespresst, bevor in den 1990er-Jahren die Produktion zum Erliegen kam. Aber jemand aus Pionki kam auf die Idee, dort ein Schallplattenfestival zu organisieren. Wir unterstützen solche Ideen, weil sie in der Region verwurzelt, weil sie authentisch sind. Die Menschen denken sich bei unseren Workshops Projekte aus, auf deren Basis sie weiterarbeiten können, wenn wir nicht mehr da sind. »

«In diesem Jahr machen wir ein Projekt namens «Cut» (Cięcie), eine Reihe von Kunst- und Bildungsveranstaltungen anlässlich des internationalen Festivals für kulturelle Bildung Short Cut. Wir wollen dort die sinnvollsten Praktikten aus Polen und ganz Europa präsentieren. Wir wollen uns distanzieren von den schlechten, verkümmerten Praktiken der administrativen Steuerung von Kultur, von instiutionell produzierten Kunstevents. Wir wollen, dass dies eine prägende Begegnung für Pädagogen, Sozialaktivisten, Künstler und soziokulturelle Animatoren wird. Selbstverständlich sind auch Vertreter der Hochkunst herzlich eingeladen. Aber nur, wenn sie bereit sind, sich an dem von uns postulierten Bündnis von Hochkunst und kultureller Bildung zu beteiligen.»

 

 

«[Ein anderes Projekt ist] zum Beispiel ‹Das offene Museum›. Auf der Suche nach dem verschwundenen Besucher›. Bei diesem Projekt geht es darum, dass Kulturinstitutionen, also beispielsweise Museen, dorthin gehen, wo die Menschen sind, und nicht darauf warten, dass die Menschen zu ihnen kommen. Genau wie Janusz Byszewski fragen wir nicht ‹Wie oft warst du im Museum?›, sondern ‹Wie oft war das Museum bei dir?›. Wir denekn dabei auch an Galerien, die nach Statistiken zu achtzig Prozent aus gesellschaftlichen Gründen, wegen des Lifestyles, besucht werden. Nur zwanzig Prozent der Besucher kommen, weil sie sich wirklich bewusst mit Kunst auseinandersetzen wollen. Ein solcher Status quo wird von den Künstlern und Kuratoren selbst aufrechterhalten und vielleicht sogar diktiert. Das ist wie eine Abmachung zwischen einem schlechten Lehrer und einem schlechten Schüler: ‹Komm zum Unterricht, sitz einfach da und sag nichts. Wir werden einander nicht kontrollieren, du bekommst deine Eins und alles ist prima. Niemand erfährt davon, dass unsere handlungen nur eine Simualation derstellen, eine Reproduktion von Ignoranz und Gleichültigkeit.›»

«Ausserdem machen wir noch das Projekt ‹Musikalische Bildung›, zu dem uns die Berliner Philharmoniker inspiriert haben. […] Die Berliner Philharmoniker, die eigentlich für drei Jahre ausgebucht sind, haben ein ganzes Jahr lang mit Strafgefangenen zusammen geprobt. Sie sind einfach in die Gefängnisse gegangen, haben etwas mit den Häftlingen gespielt, ihre Instrumente getauscht und hinterher ein Konzert gegeben. Es war ein bisschen kakofonisch, aber es ging auch nicht um die Qualität der Musik. Das war einfach eine Verbeugung der ‹Hochkunst› vor den Menschen. Dieser Trend stammt aus Grossbritannien, wo das Kultusministerium den Philharmonien zwei Jahre Zeit gegeben hat, um eine vernünftige Bildungsarbeit auf die Beine zu stellen. Wenn nicht, wurden ihnen die Mittel gekürzt. Hier zeigt sich ein Wandel im Bewusstsein der Verantwortlichen. Wir sollten uns heute nicht mehr mit einer so selbstverständlichen Situation zufriedengeben, dass die Elite in die Philharmonie geht.»

«Wir arbeiten mit Menschen zusammen, die in ihrem eigenen Umfeld tatsächlich etwas bewegen. Und wir wollen sie dabei ideell und maeriell unterstützen. Wenn wir das nicht tun, halten wir die Distanz zu ihnen bewusst aufrecht.»

«[Fassadenkultur ist] zum Beispiel, wenn in einer Kleinstadt in Masowien eine Ausstellung mit Fotografien eines Warschauer Künstlers organisiert wird, oder auch klassische Konzerte in Kirchen oder Kulturhäusern. Das lokale Publikum kommt und sieht sich qualitätsvolle Kunst, hohe Kultur an. Sie sind elegant gekleidet und für einen Abend lang ‹Menschen mit Kultur›. Sie bemühen sich, fremden Ansprüchen zu genügen. Wenn ich ‹wir› sage, dann denke ich dabei an soziokulturelle Animatoren, wir realisieren Projekte lieber mit den Menschen zusammen.»

«Wenn wir in die Gesellschaft gehen, um sie mithilfe von Kunst zu verändern, dann interessiert uns vor allem die Gesellschaft. Wir wollen dauerhafte, messbare Resultate, konkrete Veränderungen. Uns interessiert der Zustand, in dem wir die von uns aus der Lethargie gerissenen Menschen hinterlassen, uns interessiert ihr weiteres Schicksal. Ihr benutzt die Gesellschaft als Treibstoff der Kunst, wir benutzen die Kunst als Treibstoff der Gesellschaft. Das ist ein fundamentaler Unterschied, eine fundamental andere Verantwortung.»

Auszug aus: Marcin Śliwa, Ihr Fassadenkünstler! Marcin Śliwa im Gespräch mit Paweł Althamer, Igor Stokfiszewski und Artur Żmijewski. In: Artur Żmijewski, Joanna Warsza (Hg.), Forget Fear. Berlin Biennale, 2012, S. 24-35.

 

 

Marcin Śliwa, geb. 1972, Lebt in Warschau

Marcin Śliwas Arbeitgeber ist das Zentrum für Kultur und Kunst des Landes Masowien, Warschau. Er hatte seit 1994 als Kulturvermittler dort gearbeitet und fühlte sich von der institutionellen Bürokratie erdrückt, also beschloss er, das System von innen zu verändern. Seine kleinen Guerilla-Aktionen in seinem Arbeitsbereich liessen ihn zu der Überzeugung gelangen, dass nur ein unerschüllterlicher Glaube an bestimmte Ideen die Position und Rolle der Kultur innerhalb der Gesellschaft verändern kann. Bedauerlicherweise betreibt die kultur häufig nur Nabelschau und ordnet sich den Autoritäten unter. Ein emanzipatorischer Prozess – wie Sliwa ihn sich vorstellt – sollte mit der Abschaaffung der «Fassadenkultur» beginnen; sie würde von einer Kunst ersetzt werden, die den Bedürfnissen der Menschen eher Rechnung trage.

 

Quelle Bilder: www.platformakultury.pl

Quelle Portrait: www.warsztatykultury.pl

Quelle Zitate und CV: Marcin Śliwa, Ihr Fassadenkünstler! Marcin Śliwa im Gespräch mit Paweł Althamer, Igor Stokfiszewski und Artur Żmijewski. In: Artur Żmijewski, Joanna Warsza (Hg.), Forget Fear. Berlin Biennale, 2012, S. 24-35/ 410.