Eine Omnipotenzphantasie

Die dOCUMENTA (13) zwischen kosmischem Einschlag und Kleingarten-Appeal, NS-Reminiszenzen und Quantenphysik

[…] In Kassel […] setzte die künstlerische Leiterin der d 13, Carolyn Christov-Bakargiev alles daran, „El Chaco“ nach Deutschland zu holen. Das 37 Tonnen schwere Fragment eines Himmelskörpers, der vor einigen tausend Jahren auf dem Planeten Erde einschlug, sollte vom Campo del Cielo im Norden Argentiniens auf den Friedrichsplatz der Nordhessen-Metropole Kassel überführt werden. Um die „Menschen durch dieses Objekt zusammenzubringen“, erklärt Christov-Bakargiev in ihrem programmatischen Essay „Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasend, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit“. Das Stichwort „Menschen“ steht konkret für mindestens 750.000 Besucherinnen und Besucher […]. Da braucht es Knüller vom Kaliber eines Kometen. Nur: Das mit „El Chaco“ wurde nichts.

[…] so stößt der Besucher des „Brain“ plötzlich auf ein offizielles Fotoporträt von Adolf Hitler als Accessoire einer Aufnahme, die Lee Miller von sich fertigen ließ, als sie sich in der Münchener Wohnung des letzten demokratisch gewählten deutschen Reichskanzlers in dessen Badewanne räkelte. […] Im Begleittext zu den Münchener Aufnahmen kommt auch Christov-Bakargiev zu Wort, die sich zu der These hinreißen lässt, [Lee] Miller habe, indem sie sich in Hitlers Wanne legte und ablichten ließ, eine Stellvertreterfunktion eingenommen, mithin einen Akt der Absolution vollzogen. „Es ist ein ‚mythisches Foto‘ – als versuchte sie die Menschheit von ihren Sünden zu reinigen“, sagt Christov-Bakargiev in der Diktion eines profanierten Post-Katholizismus über Miller. Katharsis mit der Kamera: Derlei spekulative Überhöhungen sind charakteristisch für die künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13). In ihren Texten und Statements trumpft sie mit grandios aufgeblähten Welterklärungsformeln auf oder wirft mit grobschlächtigen Analysehappen um sich: Sie mögen in einzelnen Objekten und Installationen Resonanz finden – die fehlende intellektuelle Konsistenz der Ausstellung verhüllen sie allenfalls notdürftig. […]

Heterogene Objekte aus Natur und Kultur auf engem Raum zusammengefasst, frei von jeder Klassifizierung und Kategorisierung: Das ist das Prinzip Kunst- und Wunderkammer. […] Aber aus welcher Welt der Wunder stammen sie? Aus dem Intimbereich der nationalsozialistischen Führerschicht. In Gestalt der Toilette-Artikel von Eva Braun (welchen Preis würde wohl ihr Parfum-Flacon auf einer Auktion erzielen?) oder der weißen Porzellan-Figurine aus Hitlers Badezimmer. […]

Die Zusammenstellung ist ausreichend willkürlich und oberflächlich und erlaubt somit jeder und jedem, sich eine eigene Sicht zusammenzubasteln. […] das „Brain“ und die von ihm abgeleiteten Ausstellungskomponenten funktionieren eben nicht nach dem Prinzip Kunst- und Wunderkammer, sondern bilden nur eine als Kunst- und Welterklärungsveranstaltung getarnte hypertrophe Variante des Modells „Illustrierte“. Ein paar Häppchen von dem, ein paar von jenem, Sex & Crime inklusive, und zwar in ultra-obszöner Verbindung: vis-a-vis der barbusigen Lee Miller ein weißes Frotteetuch mit den Initialen A.H. – als habe der größte Massenmörder des 20. Jahrhunderts nur darauf gewartet, die forsche Amerikanerin flauschig zu umhüllen.

Aber eine Illustrierte lebt von der bunten Mischung, der leicht konsumierbaren Vielfalt. So auch die dOCUMENTA (13). Die Verbindung von Politik und Frauen etwa wird in der Karlsaue geboten. Dort stehen Zelte, und wenn sie nicht gerade durch schwere Regengüsse außer Form gebracht sind, dann betätigen sich in ihnen Nordafrikanerinnen, die im Namen der Cooperativa Unidad Nacional Mujeres Saharauis für die Unabhängigkeit ihrer Heimat, der Westsahara, eintreten. Dem von Station zu Station pilgernden Kunst-Wanderer offerieren sie in kleinen Schalen ein schmackhaftes Hirsegericht, das sie in situ zubereiten. […]

„Viele der Sahrawi-Rebellengruppen finanzieren ihre Kampagnen durch Entführungen, Menschen- oder Drogenhandel. Dass [sich] die UN angesichts der sich rasch entwickelnden Lage in Mali nicht willens zeigt, für die Lage der Sahrawis einzutreten, treibt in diesen Tagen viele frustrierte Jugendliche in die Arme bewaffneter Gruppen“, schreibt die Aktivistin Anita Hunt, ohne dabei zu verschweigen, dass es von marokkanischer Seite trotz der UN-Mission MINURSO zu brutalen Militäreinsätzen gegen die nach Autonomie strebenden Menschen kam. Aber solche Auskünfte erhält man im Internet oder über Fachorgane, die sich mit Problemen des Post-Kolonialismus in Afrika befassen. […] Für die Documenta-Besucher liegt eine schmale Broschüre über „The Art of Sahrawi Cooking“ aus. […] Vorstellbar, dass es Leute gibt, die sich nach ihrer Kunst-Tour auf Recherche in Sachen West-Sahara begeben. Und wenn nicht? Dann bleibt womöglich nur der Gaumenkitzel. […]

Dieser Hang zur Gesamtverniedlichung ist ein auffälliges Merkmal der dOCUMENTA (13). Er manifestiert sich darin, dass man Sachverhalte, die eo ipso zu gewaltig, zu verwirrend oder zu verflochten sind, um rasch mal eben analysiert, verstanden und wenn notwendig geändert zu werden, auf ein überschaubares, gewissermaßen handliches Maß zurechtportioniert. […] Es ist eine Leere des reflexiven Mangels, wie sie sich einstellt, wenn Probleme nur angerissen, aber nicht zu Ende gedacht und thematische Felder nur partiell oder peripher besetzt, aber nicht eigentlich durchgearbeitet werden. […]

Es klingt unwahrscheinlich, dass ausgerechnet [Giorgio Morandis] kleinformatige Bilder, die in einem Bologneser Wohnzimmer gemalt wurden, den Zusammenbruch der faschistischen Herrschaft in Italien beschleunigt haben sollen. Müßig, darüber zu spekulieren. […] Denn so wenig wie mit Carr, Dalí, Martins und Morandi die Visionen und Kämpfe, Utopien und Widersprüche auf den Punkt gebracht sind, die den ästhetischen Diskurs eines von Revolutionen, Totalitarismen und zwei Weltkriegen aufgewühlten und gepeinigten Zeitalters bestimmten, so wenig ist der Stand der Kunst heute irgendwie auf einen oder mehrere Nenner gebracht.

Die Selbstverpflichtung des Kurators zu dokumentieren, was sich in den fünf Jahren zwischen der jeweils letzten und der gerade aktuellen Documenta als relevant, diskussionswürdig oder auch verstörend herauskristallisiert haben könnte, besteht nicht mehr. Damit aber ist der Kunst das Vertrauen entzogen. Es wird ihr offenbar nicht zugestanden, dass sie gültige Aussagen trifft über den Zustand und die Verfasstheit der Welt oder die Gefahren und Krisen, mit denen Menschen unter gegenwärtigen Existenzbedingungen fertig werden müssen. Weder wird die Gesamtheit künstlerischer Produktion als maßgebliche Bezugsbasis verstanden, noch fallen die über einen längeren Zeitraum ausgearbeiteten, nach und nach zu einem Lebenswerk sich verdichtenden Einzelpositionen ins Gewicht. […]

Ein wenig Nervenkitzel soll sein, aber bitte niemanden vergraulen. Das Herunterzoomen auf beschauliche Formate ist jedoch zugleich Tarnung: Selten dürfte eine Documenta von einem solchen Bündel an Omnipotenzphantasien dominiert worden sein wie die dOCUMENTA (13). Das älteste Objekt, das je auf einer der Kasseler Kunstschauen gezeigt wurde, hätte es sein sollen; bis an die Stellen des ärgsten Leids, das die Moderne hervorgebracht hat, inklusive einem Exkurs zu den Roten Khmer und zu den Verwahranstalten repressiver Psychiatrie ist man vorgestoßen; auf drei Kontinente wurde das Handlungsgebiet der Documenta ausgedehnt, mit Dependance in Kabul, Kairo und im kanadischen Banff; selbst den subtilsten Geheimnisse der Atome kam man dank der Apparaturen des Wiener Quantenphysikers Anton Zeilinger nahe. Und wenn etwas die eigenen Kreise zu stören drohte, setzte man alle Hebel in Bewegung, um sich die ästhetische Deutungshoheit zu sichern – siehe den Skandal um Stephan Balkenhol und Gregor Schneider. […]

Auszug aus: Michael Hübl, Eine Omnipotenzphantasie. Die dOCUMENTA (13) zwischen komischem Einschlag und Kleingarten-Appeal, NS-Reminiszenzen und Quantenphysik. In. Kunstforum, Bd. 217, Sept. 2012, S. 27-41.