Wer dazugehören will, muss sich abgrenzen

Fans von Harry Potter freuen sich über Gleichgesinnte; wer die TV-Serie «The Wire» mag, versteht sich eher als Individualist: Was der Umgang mit Kultur über gesellschaftliche Gruppenzugehörigkeit aussagt.

Zunächst wäre da eine gehobene Massenkultur, die sich inhaltlich gar nicht universalistisch gibt, sondern sich eher durch Obskurantismus und Mystizismus auszeichnet, bei einer gleichzeitig global verständlichen und verstandenen künstlerischen Sprache. Dies ist die Welt, die von «Harry Potter» über «World of Warcraft», «The Chronicles of Narnia» quer durch Literatur, Actionkino und Computerspiel bis zum «Herrn der Ringe» reicht, aber natürlich auch andere Abenteuer einschliesst, die nominell nicht in Fantasywelten spielen, de facto aber doch.

Den zweiten Teil der Nachfolge bürgerlicher Kunst bestreiten die gehobenen Subkulturen, die sich für HBO-Fernsehserien ebenso interessieren wie für gediegenen Indierock oder auch für Hip-Hop mit höherem Production-Value, etwa von Kanye West. Dieses Publikum hat durchaus ein Problem mit seiner grossen Zahl und verknüpft Scheineinigkeiten und Parallelen des Geschmacks mit einem grossen Bemühen um Abweichung und Distinktion – es bemüht sich, genau das Problem zu lösen, das Simmel als das der Mode angegeben hat. Zwar gibt es auch hier, wie in der Harry-Potter-Welt, gemeinsame künstlerische Sprachen, aber die Betonung in dieser Welt liegt eher auf dem Geschmack, mithin der Bestätigung einer bestimmten und genau bestimmbaren Individualität, nicht auf Kommunikation und Verstehen einer Sprache. Man kommuniziert in allen Beteiligten verständlichen Beispielen vor allem den jeweiligen Unterschied.

Vielleicht kann man ihn [den Unterschichtsnetzkommentator; den rechthaberischen, meist etwas stumpfen und reaktionären Stänkerer von «Spiegel online» oder «Welt online»] durch den Fan im Allgemeinen ersetzen: also durch Leute, die sich mit ihrer Kultur nicht nur aus sekundären Motiven umgeben, sondern das, was sie rezipieren, dringend zu brauchen scheinen, und daher auch auf Urteile nicht verzichten können. Und nur Urteile halten eine lebendige kulturelle Debatte am Leben. Sie tragen nicht, wie ein modischer, pseudonobler geisteswissenschaftlicher Gestus meint, zum patriarchalen Abschneiden der Debatte bei – diese Macht der Kanonbildung hat kein Urteilender mehr. Sie produzieren erst den Widerspruch zweiter und dritter Urteile, die eine Debatte braucht, die überhaupt eine sein will, also mehr als das Ausstellen von Präferenzen.

Auszüge aus: Diedrich Diederichsen: Wer dazugehören will, muss sich abgrenzen. Tages Anzeiger. 04.10.2011. http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/Wer-dazugehoeren-will-muss-sich-abgrenzen/story/29722511/print.html. Zugriff: 31.01.2012. [Hervorhebung im letzten Absatz durch die Redaktion].

 

Diedrich Diederichsen, geboren 1957 in Hamburg, war in den Achtzigern Redakteur bei Musikzeitschriften (Sounds, Spex), in den Neunzigern Hochschullehrer. Er veröffentlicht regelmäßig in Texte zur Kunst, Theater heute und Tagesspiegel und lebt in Berlin.

 

 

Quelle Titelbild: Tucson Citizen

Quelle Portrait: tip Berlin (Tibor Bozi)

Quelle Biographie: www.perlentaucher.de