«Ich glaube, dass Disziplin etwas Schönes ist, etwas Notwendiges ist und es betrifft […] den Bereich des Klavierspiels oder des Erlernens eines Instruments – ohne Disziplin geht das überhaupt nicht. Aber es betrifft auch andere Lebensbereiche. Es ist schon richtig, dass man für sich selber, zumindest in Phasen des Lebens, ein Ordnungssystem errichtet. Ohnedem wird es nicht gehen. […] Auch ein Musiker wird eine Disposition zu schaffen haben, um dann irgendwie diesen einen Moment nicht nur zu erwischen, sondern auch zu erleben, wo plötzlich so gut wie alles stimmt. Den hat man ja manchmal, wenn man bei sich zu Hause ist oder irgendwo an einer Winterreise übt und plötzlich stimmt alles. Und am nächsten Tag ist wieder alles weg. Und am übernächsten Tag ist auch alles weg. Und die einzige Energie, die man hat, ist diesen Moment der Gnade wieder zu erleben, wo – aus was für Gründen auch immer, die kann ich nicht benennen, diese Gründe – wo plötzlich alles eine Art von Klang wird, nicht nur im musikalischen, sondern sagen wir in einem grösseren Sinne, metaphorischen Sinn. Dass so etwas möglich ist und erlebbar ist, hat mit einer Disposition zu tun und diese Disposition, die kann man nur durch Disziplin erreichen. Ich glaube da ganz fest daran. Alles andere kommt in eine Region von Dilettantismus in gewisser Weise – und gegen Dilettantismus hab ich nichts, weil es was sehr Schönes – il diletto, das ist eine Freude – aber es hilft einem im professionellen Leben überhaupt nicht weiter.»

«Es gibt das Wort Wiederholung, aber die gleichen Buchstaben können auch etwas anderes meinen: nämlich die wieder Holung. Das ist interessant. Also die wieder Holung eines Zustandes – und das ist das, wovon ich vorhin gesprochen habe und das ist das, was eine wirkliche Energie ist für jeden Musiker und für jeden Künstler: die wieder Holung. Nicht die Wiederholung. Das wäre langweilig und das wäre wahrscheinlich auch etwas einfältig, sich darauf zu verlassen. Aber der Moment der wieder Holung, […] des Wiederfindens, das ist fantastisch.»

«Ich glaube, dass das Leben mit Büchern und mit dem Geschriebenen etwas sehr Wesentliches ist. Es gibt von Borges diesen schönen Satz: ‹Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn.› Und das ist irgendwo Musik ja auch, ich meine, wir denken ja mit Empfindungen, die andere gehabt haben und die wir uns in gewisser Weise versuchen, nicht zu eigen zu machen, aber denen wir näher kommen wollen. Also Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn und Musik ist auch Empfindung mit einer Materie, die man nicht selbst geschaffen hat, aber mit der man irgendeine Art von Beziehung eingeht und mit der man kommuniziert. Und wo man auch für sich eine Berechtigung finden muss, mit dieser Materie zu kommunizieren.»

«Kunst ist ein Teil von dem, was wir unter Kultur subsumieren. Die Kultur liefert einen Beitrag dazu. Kultur ist geradezu eine Aufforderung, darüber nachzudenken, wie wir miteinander zu leben haben und welche Formen des Miteinanderlebens wir finden können. Im kommenden Sommer wird Intolleranza von Luigi Nono aufgeführt und ich halte das wirklich für ein Werk, das wahrscheinlich nie dringlicher war, als es heute ist. Also das Nachdenken über die die Toleranz, über die Intoleranz, das Nachdenken über die Würde des Menschen, über das Recht des Menschen auf Würde, über die Kraft einer Solidarität, einer Gemeinschaft. […] Wir brauchen Freiheit. Und Kunst ist Freiheit, nichts anderes als das. Kunst ist Freiheit. Aber wir brauchen auch wirklich mehr denn je ein Gefühl, dass das eintritt, was Luigi Nono in der Intolleranza formuliert, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist. Das ist wichtig.»

«Die grossen Kunstwerke, in die kann man hineinschauen wie in ein Mikroskop. Und alles, alles, alles, was uns Menschen betrifft, die existenziellsten Fragen, werden wir dort finden. Möglicherweise gar keine Antworten, aber die Fragen finden wir. […] Und das ist einer der faszinierenden Aspekte an dem, was ich mache, dass ich diese Möglichkeit habe, zum Beispiel mit Intolleranza von Luigi Nono diese Fragen anzubieten. Was jeder einzelne damit macht, das entzieht sich nicht nur meiner Kenntnis, sondern auch meiner Möglichkeiten als Intendant, aber trotzdem: Stellt euch diesen Fragen. Denkt darüber nach in einer Zeit, die wirklich aus den Fugen zu geraten scheint.»

«Dass Luigi Nono ein engagierter Künstler war, engagiert, das ist ihm doch gar nicht hoch genug anzurechnen. Was ich bei Luigi Nono interessant finde, ist, dass er nicht nur ein unfassbar wesentlicher Komponist des 20. Jahrhunderts war, sondern dass er auch jemand war, für den Musik, für den das Komponieren kein Eskapismus war, sondern dass Komponieren ein wesentlicher Beitrag zu einer Welterfassung war. Für ihn. Das ist etwas, was ich als Aufgabe – und dieser Aufgabe hat er sich tatsächlich gestellt – grossartig finde.»

«Es gibt objektive Parameter, die man anwenden kann, aber dann gibt es irgendwann in der Kunst auch eine Ebene, die nicht so leicht zu beurteilen ist – und vielleicht ist das auch gut so. Vielleicht sollten wir uns auch diesem ständigen Urteilsdruck irgendwo widersetzen. Vielleicht sollten wir irgendwann auch unsere Augen öffnen, unsere Ohren öffnen und nicht nur die Grosszügigkeit, die uns die Kunst gibt, sondern selber auch eine Grosszügigkeit in der Kommunikation mit der Kunst zu lassen.»

«Es gibt das Irrationale, das auch Teil der Existenz ist. Es gibt das, was man eben nicht erklären kann und vielleicht auch gar nicht versuchen soll zu erklären – das man nicht nur als gegeben, sondern als Geschenk sehen sollte. Es ist wunderbar, dass man nicht alles erklären kann. Ich meine, es gibt einfach Geheimnisse und wir können auch, wenn wir uns ganz ehrlich befragen, nicht wirklich leben ohne Geheimnisse. Wir können nicht in Anspruch nehmen, dass wir alles alles erklären können, alles decodieren können, für alles eine Formel finden, eine Definition.»

«Interessant sind Dinge, die nicht gleich durchschaubar sind. Interessant sind Dinge, die ein Zuhörer fast zwingen dazu, tiefer in die Materie einzudringen. Grosse Sachen lassen sich nicht so leicht durchschauen. Grosse Äusserungen sind schwieriger zu decodieren. Und es geht wirklich immer wieder um den Versuch, Dinge zu decodieren – mit welchem Ergebnis auch immer.»

«Es gibt eine Kraft, die so stark ist in der Musik und so mitreissend ist – im wahrsten Sinne des Wortes, dass man sich dem nicht entziehen kann. Und da geschieht etwas, nicht nur mit dem, der diese Musik interpretiert oder spielt […], sondern es geschieht auch etwas mit dem Zuhörer, es geschieht etwas, dass man fassungslos ist in gewisser Weise, vor dem, was und warum und in welcher Form ein Mensch das zum Ausdruck bringen kann. Das ist grossartig. Es ist existenziell. Es geht um alles.»

Auszüge aus der Radiosendung «Markus Hinterhäuser, Pianist und Intendant» von Petra Herczeg-Rosenberg, Menschenbilder Ö1, 11.4.2021

Markus Hinterhäuser, Jg. 1958, ist Pianist und Intendant der Salzburger Festspiele.

 


Links
Sendung: «Markus Hinterhäuser, Pianist und Intendant» von Petra Herczeg-Rosenberg, Menschenbilder, Ö1, 11.4.2021 (verfügbar bis 18.4.2021)

Credits
Bild: Franz Neumayr, Salzburger Festspiele

Text: «Markus Hinterhäuser, Pianist und Intendant» von Petra Herczeg-Rosenberg, Menschenbilder, Ö1, 11.4.2021 [Transkription: Laura Hilti]

Beitrag erstellt von
Laura Hilti, Kunstverein Schichtwechsel, 14.4.2021