In Tübingen und Berlin absolvierte Hans-Jörg Rheinberger zuerst ein Studium der Philosophie und Linguistik und dann ein zweites Studium der Biologie und Chemie. Danach arbeitete er als Molekularbiologe in einem Labor des Max-Planck-Instituts für Molekulare Genetik in Berlin, bevor er sich der Wissenschaftsgeschichte zuwandte. Stationen an der Stanford University, der Universität Lübeck und der Universität Salzburg führten ihn schliesslich an das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, dem er noch heute verbunden ist. Aktuell beschäftigt er sich mit den Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Kunst. Ihn interessiert, welche ästhetischen Momente in wissenschaftliches Arbeiten eingehen und welche Erkenntnisinteressen Künstler und Künstlerinnen umtreiben, wenn sie ihre Werke schaffen. Seit seinem 18. Lebensjahr schreibt er auch Gedichte. Hans-Jörg Rheinberger stammt aus Vaduz und lebt seit über 50 Jahren in Berlin. Er ist 75 Jahre alt.

Wo und wie sind Sie aufgewachsen?

Ich bin in einer Arztfamilie im Roten Haus und dann im Beckagässle in Vaduz aufgewachsen und habe am Collegium Marianum 1966 die Matura gemacht. Zu meiner Zeit war das Marianum noch eine Maristenschule unter ihrem Rektor Ingbert Ganss. Der damals erste voll angestellte weltliche Lehrer Josef Wolf unterrichtete uns in den letzten Klassen in Deutsch.

Postkarte Matura, 1966

Könnten Sie Ihren Werdegang schildern?

Dass ich studieren würde, stand eigentlich nie in Frage. Aber ich hatte keine spezielle Neigung zu einem bestimmten Fach. Die Entscheidungen fielen erst im Studium selbst.

 

Gab es bestimmte Ereignisse oder Stationen, die für Ihren Werdegang prägend waren?

Zu Beginn meines dritten Semesters in Biochemie an der Universität Tübingen sollte ich mich in ein Chemie-Praktikum einschreiben. Der Anblick der Laborbänke mit all den Glasphiolen und der alles durchdringende Geruch von Säuren, der durch den Saal wehte, und dass man im Voraus 20 DM für Glasbruch deponieren musste, liess mich auf den Fersen umkehren und zum Immatrikulationsbüro eilen, wo ich mich aus dem gerade begonnenen Studiengang der Biochemie exmatrikulierte und mich stattdessen in Philosophie einschrieb. Dabei ist es dann zunächst geblieben, bis ich mich nach Abschluss des Philosophiestudiums erneut der Biologie zuwandte. Das war dann schon in Berlin.

Foto um 1968

Gab es bestimmte Personen, die für Ihren Werdegang prägend waren?

Für meinen akademischen Werdegang war niemand prägend. Wir lehnten damals jegliche Autorität und somit auch Vorbilder ab.

 

Hat Sie Ihr Umfeld in Ihrem Werdegang unterstützt?

Wir haben uns unser Umfeld als Studenten selbst geschaffen.

Arbeitszimmer am Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Universität Lübeck

Welchen Tätigkeiten gehen Sie derzeit nach?

Ich schreibe Bücher und Gedichte und unterhalte mich gerne mit neugierigen, unvoreingenommenen Menschen jeden Alters.

 

Erfüllt Sie das, was Sie derzeit machen?

Es erfüllt mich, denn so hat sich die Sache entwickelt.

 

Was oder wer inspiriert Sie im Alltag?

Dass jeder Tag wie der andere und doch jeder Tag neu ist: Wiederholung und Differenz.

 

Was oder wer gibt Ihnen im Alltag Kraft und Energie?

Der Morgenlauf und Ineke, meine Frau.

Im Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass am Wissenschaftskolleg zu Berlin, 1993/1994

Es gibt «magische Momente», in denen alles zu passen scheint. Momente, die erfüllen, inspirieren und Kraft geben. Momente, die bestätigen, dass sich der Einsatz lohnt und dass das, was man macht, sinnhaft und wertvoll ist. Haben Sie solche Momente in Bezug auf Ihre eigenen Tätigkeiten schon erlebt?

Ich halte nichts von magischen Momenten. Das sind Illusionen, die man sich nachträglich zurechtlegt. Ausserdem inspiriert mich und fordert mich eigentlich eher das heraus, was nicht ganz so läuft, wie ich es mir gedacht habe.

Karikatur als Leiter einer Sommerakademie in Berlin, 1994

Gibt es Momente, in denen Sie an dem, was Sie machen, zweifeln?

Der Zweifel an dem, was ich mache, begleitet mich ständig. Ohne ihn gäbe es kein produktives Arbeiten.

 

Können Sie schwierigen Momenten rückblickend etwas Positives abgewinnen?

Wenn zu viel zusammenkommt, kann das eher lähmend wirken.

 

Gibt es etwas, was Sie rückblickend anders machen würden?

Das ist schwer zu beantworten. Wenn ich mein Leben aber noch einmal zu leben hätte, würde es voraussichtlich anders verlaufen, nicht weil ich etwas anders hätte machen wollen, sondern weil es sich anders ergeben hätte.

Liechtensteiner Exkurse IV, Steinegerta, 1999

Möchten Sie mit Ihren Tätigkeiten etwas zur Gesellschaft beitragen?

Ich glaube, meine Tätigkeit gehört in das kulturelle Leben unserer Gesellschaft und ist insofern ein integraler Bestandteil desselben. Ich versuche zum einen, meiner Wissenschaft neue Facetten hinzuzufügen, sie zu bereichern und umzugestalten, andererseits aber auch, zum gesellschaftlichen Verständnis der Wissenschaften beizutragen.

 

Ist Ihnen die Anerkennung von anderen Personen bzw. von der Öffentlichkeit wichtig?

Damit, dass man Teil einer Wissenschaftlergemeinschaft ist und international in deren Fachorganen publizieren kann, ist automatisch eine Anerkennung der eigenen Arbeit verbunden, anders gesagt, man wird eben dadurch Teil einer solchen Gemeinschaft, dass die eigene Arbeit kollektive Anerkennung findet. Wenn die breitere Öffentlichkeit auch honoriert, was man macht, freut einen das, aber man muss auch ohne diese Anerkennung leben können.

 

Wie gut können Sie von dem, was Sie beruflich tun, leben?

Ich habe das Glück, von einer selbst gewählten Tätigkeit gut leben zu können.

Gedicht «Oben und unten»

Gibt es etwas, das Sie derzeit besonders beschäftigt?

Mich beschäftigt die immer noch vorherrschende Ignoranz von Wirtschaft und Politik in Umwelt- und Klimafragen. Der Planet wird nach wie vor schonungslos geplündert. Das ist durch nichts zu entschuldigen.

 

Gibt es etwas, womit Sie sich in Zukunft gerne (verstärkt) beschäftigen würden?

Ich würde gerne möglichst lange fortsetzen können, womit ich mich im Augenblick beschäftige: einerseits meine poetische Tätigkeit, andererseits meine wissenschaftshistorischen und wissenschaftsphilosophischen Erkundungen.

Umschlag eines neuen Buches, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021

Wofür sind Sie im Leben besonders dankbar?

Für das Leben als solches.

Dieses Interview ist Teil des Projekts «Magic Moments» des Kunstvereins Schichtwechsel, in dessen Rahmen Menschen zu ihrem Werdegang, ihren Tätigkeiten sowie magischen und schwierigen Momenten befragt werden.

Das Projekt wird gefördert durch die Kulturstiftung Liechtenstein und die Stiftung Fürstl. Kommerzienrat Guido Feger.

>>> Alle Interviews