Carol Wyss besuchte den Kunst Vorkurs in St.Gallen und absolvierte danach eine Grafikerlehre bei der Hilti AG in Schaan. Dann studierte sie Kunst an der «Slade School of Fine Art UCL» in London und arbeitet seitdem als bildende Künstlerin. Heute lebt sie mit ihrem Mann und zwei Teenager-Kindern in London, neben einem alten viktorianischen Friedhof. Ihre Brotjobs sind Kunstlehrerin und Freelance Grafikerin. Die verbleibende Zeit entwickelt sie ihre eigenen Arbeiten als bildende Künstlerin in den Bereichen der Druckgrafik und Installation. Vor zwei Jahren wurde sie in die renommierte «The London Group» Artist Collective aufgenommen und zeigt ihre Arbeiten regelmässig in nationalen und internationalen Gruppen- und Einzelausstellungen. Carol Wyss mag den Austausch mit Freunden, das aktive Erleben der vielfältigen Londoner Kunst- und Kulturszene, das Rausgehen in die Natur, die Bewegung sowie Bücher und Filme. Carol Wyss stammt aus Mauren in Liechtenstein und ist 51 Jahre alt.

Wo und wie sind Sie aufgewachsen?

Ich wuchs in Mauren auf mit meinen Eltern und zwei Geschwistern in einer Wohnung mit einem grossen Garten, ganz in der Nähe des Waldes. Ich war am liebsten draussen, vor allem im Wald, wo ich wenn immer möglich meine Zeit verbrachte, Bäume erkletterte, Hütten baute und stundenlang jeden Winkel erforschte. Wenn das Wetter nicht mitspielte, zeichnete, las und träumte ich viel.

 

Könnten Sie Ihren Werdegang schildern?

Nach dem Kunststudium in London lebte ich für mehrere Jahre in London und Liechtenstein. Ich arbeitete im Kunstmuseum Liechtenstein im Ausstellungsaufbau, unterrichtete Kunst in London und entwickelte meine eigene Kunsttätigkeit. Als die Kinder kamen, wurde London mein Lebensmittelpunkt. Ich konnte für ein paar Jahre nur wenig an der Kunst weiterarbeiten. Ein Durchbruch kam als ich mit der Serie INTO THE WILD den John Ruskin Prize gewann. Seither zeige ich meine Arbeiten regelmässig in nationalen und internationalen Ausstellungen.

«Into the Wild», Installation mit Radierungen auf Papier, Palais Liechtenstein, Feldkirch
«Into the Wild», Deptford X Art Festival, London

Gab es bestimmte Ereignisse oder Stationen, die für Ihren Werdegang prägend waren?

Ich kann mich gut erinnern, wie ich während eines Bildhauerworkshops im Kunstvorkurs St.Gallen mitten im Stein Behauen realisierte, dass Kunst (m)ein Lebensweg sein könnte – es war eine riesige Erleichterung. Eine wichtige Station danach war die Entdeckung und das Studium der verschiedenen grafischen Drucktechniken während meiner Kunstausbildung in London; ich hatte einen sehr inspirierenden Professor, der selbst Künstler war – es eröffneten sich mir völlig unerwartete neue Wege des künstlerischen Ausdrucks, alles war möglich.

 

Gab es bestimmte Personen, die für Ihren Werdegang prägend waren?

Es gab, und gibt immer noch viele Personen die mich und damit meinen Werdegang auf die verschiedenste Art und Weise prägten; allen voran meine geduldigen Eltern, die mich immer ermutigten.

 

Hat Sie Ihr Umfeld in Ihrem Werdegang unterstützt?

Ja – eigentlich immer, wenn sie merkten, dass es mir ernst war.

Im Atelier, Work in progress

Welchen Tätigkeiten gehen Sie derzeit nach?

Wenn immer möglich arbeite ich an meiner Kunst. Ich konzipiere meine Arbeiten in meinem Atelierzimmer zuoberst in unserem Haus. Um die Arbeiten drucktechnisch zu entwickeln und verwirklichen benutze ich eine öffentliche Druck- und Grafikwerkstatt. Momentan arbeite ich an zwei grossen Installationen für eine Einzelausstellung im Brantwood Museum in Cumbria.

 

Erfüllt Sie das, was Sie derzeit machen?

Ich liebe es, mich wieder vermehrt auf meine Kunst konzentrieren zu können. Diese Möglichkeit zu haben, den Dingen und Situationen, die mich interessieren, auf den Grund zu gehen, versuchen, sie zu begreifen, zu hinterfragen, neu zu interpretieren und das in meiner Kunst auszudrücken, finde ich endlos spannend.

 

Denken Sie, dass Sie einen Einfluss darauf haben, ob Ihre Tätigkeiten erfüllend sind?

In meiner Kunsttätigkeit habe ich die Freiheit, meine Regeln selbst zu definieren, konstant die Grenzbereiche auszuloten. Es ist mir wichtig, möglichst offen sein, genauer hinzuschauen, mir Zeit zu nehmen fürs Nachdenken; oft sind es stille, unscheinbare Augenblicke – eine Welt im Staubkorn.

«All that remains», Installation von Radierungsplatten aus Kupfer, Johanniterkirche Feldkirch
«Adams Rippe», Fotografien auf Glasplatten mit LED Licht

Was oder wer inspiriert Sie im Alltag?

Mich interessiert es, wie Menschen ihr Umfeld erfahren, verstehen – sei es, wie meine Kinder die Welt erfahren oder wie die verschiedensten Kulturen in einer Stadt wie London miteinander leben und umgehen. In dem Zusammenhang inspiriert mich immer wieder das menschliche Skelett; diese physische Grundstruktur, die uns Menschen eine Form gibt, die Knochen und die Geschichten, die sie innehaben.

 

Was oder wer gibt Ihnen im Alltag Kraft und Energie?

Meine Familie und Freunde, Aufenthalte in der Natur, kulturelle Veranstaltungen, Bewegung, gute Bücher, Sonne/Licht, Musik, Vogelgezwitscher bei Sonnenauf- und -untergang – Stille.

Aufbau von «Signs», Woolwich Contemporary Print Fair, London

Es gibt «magische Momente», in denen alles zu passen scheint. Momente, die erfüllen, inspirieren und Kraft geben. Momente, die bestätigen, dass sich der Einsatz lohnt und dass das, was man macht, sinnhaft und wertvoll ist. Haben Sie solche Momente in Bezug auf Ihre eigenen Tätigkeiten schon erlebt?

Diese Momente erscheinen ganz unverhofft – gelöst von Zeit und Raum; sie können mitten im Radierungsprozess sein, wenn ich schwarze Farbe von der Stahlplatte ganz gezielt entferne und sich beim Druck im Bild Tiefe entwickelt und Inhalt fassbar wird; wenn es unerwartet einfach stimmt – oder beim stillen Beobachten, manchmal beim Zeichnen oder Fotografieren, wenn das Licht beinahe greifbar wird und alle Zusammenhänge Sinn machen. Ganz magisch ist für mich oft auch, wenn ich sehe, wie jemand beim Betrachten meiner Kunst innehält, genauer hinschaut und sich wundert.

 

Tun Sie aktiv etwas dafür, damit sich solche magischen Momente einstellen können?

Am besten gar nichts, im Moment sein mit was immer man gerade macht – das Magische an solchen Momenten ist, dass man sie nicht kontrollieren kann.

«Sound of Silence», Kupfer
«In the Eye of the Beholder», Installation mit Radierungen

Gibt es Momente, in denen Sie an dem, was Sie machen, zweifeln?

Beim Umgang mit dem Kunstzirkus, wenn man wieder merkt, dass in der Kulturbranche oft das Geld und das Networking wichtiger ist als die eigentliche Kunst. Ich vertiefe mich im dann immer in meine Arbeiten.

 

Können Sie schwierigen Momenten rückblickend etwas Positives abgewinnen?

Sie erinnern mich daran, was mir an der Kunst wichtig ist; das ehrliche Ergründen und Verwirklichen einer Idee, das Weitersuchen und in Frage stellen – nicht für ein bestimmtes Publikum oder aus finanziellen Gründen.

 

Gibt es etwas, was Sie rückblickend anders machen würden?

Nein, es kommt sowieso meistens anders, als man denkt.

«Terra Critica», Fotografie C-Type auf Aluminium

Möchten Sie mit Ihren Tätigkeiten etwas zur Gesellschaft beitragen?

Idealerweise schaffe ich mit meinen Kunstinstallationen einen Raum zur Reflexion – nicht, damit der Betrachter Vermutungen darüber anstellt, was ich denke, sondern was er/sie selbst denkt.

 

Ist Ihnen die Anerkennung von anderen Personen bzw. von der Öffentlichkeit wichtig?

Es kommt darauf an von wem. Natürlich freut es mich, wenn meine Kunst etwas Positives bewirkt, wenn sie anregt und zum Denken und Hinterfragen verleitet.

 

Wie gut können Sie von dem, was Sie beruflich tun, leben?

Von der Kunst kann ich nicht leben; mit meinen zusätzlichen Geldjobs könnte ich ganz knapp alleine überleben, aber niemals unsere Familie finanzieren – zum Glück ist mein Mann nicht Künstler.

«7 Pillars of Wisdom», Radierungsplatte, Work in progress

Gibt es etwas, das Sie derzeit besonders beschäftigt?

Das physische Erleben, im Kontrast zum digitalen, damit befasse ich mich schon seit langem. Man spürt zurzeit an sich selbst, wie sehr wir darauf angewiesen sind, Leute im physischen Raum zu treffen, um einen belangvollen Austausch zu haben und mental gesund zu bleiben. Mit zwei Teenagern, die seit mehr als 10 Monaten im Home-Schooling sind, wird man manchmal ziemlich direkt damit konfrontiert.

 

Gibt es etwas, womit Sie sich in Zukunft gerne (verstärkt) beschäftigen würden?

Das immer noch vorwiegend hierarchisch kontrollierende Denken in unserem Umgang mit der Natur beschäftigt mich sehr. Es scheint, dass der Virus uns allen als Individuen und als Gesellschaft einen Spiegel vorhält, sozusagen die Hierarchie auf den Kopf stellt. Ich fühle mich gefordert, mein eigenes Handeln immer wieder erneut unter die Lupe zu nehmen.

 

Wofür sind Sie im Leben besonders dankbar?

Familie, Freunde, Gesundheit und dass ich Kunst machen kann!

Interview
Laura Hilti, Februar 2021


Links

www.carolwyss.net


Empfehlungen

Bücher
«The God of Small Things» von Arundhati Roy
«Unterland» von Robert McFarlane
«Americana» von Chimamanda Ngozi Adichie

Filme
«Tony Erdmann» von Maren Ade
«Stalker» von Andrei Tarkowski
«Social Dilemma» von Jeff Orlowski
«Parasite» von Bong Joon Ho


Credits

Porträtfoto, Im Atelier: Lyra Napier
All that remains, Adams Rippe: Patricia Keckeis
Alle anderen Fotos: Carol Wyss

Dieses Interview ist Teil des Projekts «Magic Moments» des Kunstvereins Schichtwechsel, in dessen Rahmen Menschen zu ihrem Werdegang, ihren Tätigkeiten sowie magischen und schwierigen Momenten befragt werden.

Das Projekt wird gefördert durch die Kulturstiftung Liechtenstein und die Stiftung Fürstl. Kommerzienrat Guido Feger.

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