Ich hoffe, dass das 21. Jahrhundert mehr ein Jahrhundert des Dialogs und des Gesprächs sein wird. Vielleicht ist dies schon so etwas wie eine Art Manifestation. Ich habe den Eindruck, das 20. Jahrhundert war sehr selbstgewiss, und hoffe, das 21. Jahrhundert wird etwas weniger von sich überzeugt sein. Dazu gehört, dass man zur Kenntnis nimmt, was andere sagen, und in einen Dialog tritt, was etwas ganz anderes ist, als sich hinzustellen und seine Absichten zu deklarieren. Das hat etwas merkwürdig Rückwärtsgewandtes an sich. […]

Ich glaube, wir sollten im 21. Jahrhundert bestrebt sein, das Niveau der Vereinerung generell anzuheben. Ich meine damit nicht die spezifishche Ästhetik der Aristokratie oder dass wir herumstolzieren sollten wie einst in Versailles. Aber der Hof von Versailles ist in einem situationistischen Sinne ein Ort voller konstruierter Situationen. Es gibt ein hohes Niveau an Verfeinerung, die sich am Subjekt abspielt; die Sorge um sich, die Konstruktion von Selbst ohne diesen Fokus auf das Objekt. Ich hoffe, dass diese verlorenen Elemente im 21. Jahrhundert zurückkommen und eine Breitenwirkung entfalten.

Tino Sehgal in einem Interview mit Hans Ulrich Obrist In: Du. Kunst im 21. Jahrhundert, Nr. 807, Juni 2010, S. 57.

 

Tino Sehgal studierte Choreographie und Volkswirtschaftslehre in Berlin und Essen. Er lebt in Berlin. Zusammen mit Thomas Scheibitz gestaltete er den deutschen Pavillon bei der 51. Biennale in Venedig vom 12. Juni bis 6. November 2005. Dafür hatte er 30 Laiendarsteller für zwei Situationen ausgewählt. Zum einen «This is so contemporary», was als Reflexion über die Position der Kunst in der heutigen Welt gedacht war. Im zweiten Werk, «This is exchange», verwickelten die Akteure die Besucher in Diskussionen über das Thema Marktwirtschaft.

 

Claudia Bodin über die Ausstellung The Progress im New Yorker Guggenheim in art. Das Kunstmagazin:

Nachdem die Kandinskys aus der letzten Erfolgs-Show im New Yorker Guggenheim Museum abgehängt waren, übernahm der in Berlin lebende Künstler Tino Sehgal die nackte Rotunde, um inszenierte „Situationen“ zu schaffen, wie der Künstler es nennt. Bis auf die mehr als 100 bei Castings ausgewählten Laiendarsteller und Tänzer bleibt Frank Lloyd Wrights berühmtes Gebäude in den kommenden Wochen leer und sah selten besser aus. […]

Für den Auftakt im Guggenheim entschied sich Sehgal für „The Kiss“. Im Erdgeschoss des Gebäudes scheint ein Paar in einem endlosen Kuss gefangen zu sein. […] Wer Direktor Armstrong beim Rotundengang folgte, wurde bei der zweiten Arbeit dieser Ausstellung mit dem Titel „This Progress“ von einem kleinen Mädchen im Empfang genommen. Es überraschte mit der Frage: „Was ist Fortschritt?“ Und während man der vielleicht Neunjährigen seine Theorie und Beispiele für Fortschritt auf dieser Welt lieferte, bewegte man sich die Rotunde empor. Wo man von einem jungen Stundenten, später von einem Erwachsenen mittleren Alters und schließlich von einem betagten Akademiker im Empfang und bis zum Ende der Rotunde begleitet wurde. Die ganze Zeit über in eine Unterhaltung vertieft, die von philosophischen Fragen wie „Kann man gleichzeitig an zwei Orten sein?“ oder „Erweist sich Signifikanz erst im Nachhinein?“ zu Unterhaltungen über figurative Malerei oder das Erdbeben auf Haiti reichte.

 

Weitere Artikel zur Ausstellung:

Fordschritt oder Fortschrott, DIE ZEIT (5.2.2010)

How I Made an Artwork Cry, NYMag (7.2.2010)

 

Quelle Zitate: Siehe oben

Quellen Bilder: agenciaorg.blogspot.com www.serpentinegallery.org

Quelle Biographie: Wikipedia

Quelle Text zur Ausstellung: art. Das Magazin